Archiv vor 2018

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Studientag Kindheitsforschung 2018

Der Studienpreis Kindheitsforschung wurde am 25. Mai 2018 von der martha muchow.Stiftung in Kooperation mit dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt/M. im Rahmen des „Studientages Kindheitsforschung“ verliehen.

Preisträgerin des Studienpreises Kindheitsforschung 2018 ist Lisa Fischer.
Der Preis wurde ihr verliehen für die Diplom-Arbeit: „Einkaufen im Bahnhofsviertel. Eine ethnografische Erforschung kindlicher Raumherstellungsprozesse in alltagpädagogischen Zusammenhängen“.

Die von Prof. Dr. Sabine Andresen (Goethe Universität Frankfurt) betreute Arbeit steht im Kontext der ethnografischen Studie „Urbane Räume – Praktiken und Wahrnehmungen außerschulischer Räume von Kindern im Frankfurter Bahnhofsviertel“. Sie ist sowohl in ihren theoretischen Teilen, ihren raumtheoretischen Überlegungen sowie vor allem bei der Dekonstruktion vom Räumen des pädagogischen Alltags sehr überzeugend. Die Beobachtungen während des Mittagslädchen in einer Kita und beim Besuch der Hort-Kinder mit einem Betreuer in einen Ein-Euro-Laden im Frankfurter Bahnhofsviertel werden differenziert und klar nachvollziehbar beschrieben und interpretiert.

Vorstand und Beirat der martha muchow.Stiftung hatten aufgrund der eingereichten Anträge entschieden, einen Sonderpreis zu vergeben.

Preisträgerin des Sonderpreises ist Sarah Mühlbacher.
Er wurde ihr verliehen für ihre Masterarbeit: Autonomie in der Kindererziehung – ein Widerspruch?
https://phbl-opus.phlb.de/frontdoor/index/index/docId/587

Die von Prof. Dr. Sutterlüty (Goethe Universität Frankfurt) betreute Arbeit beschäftigt sich mit einem grundlegenden Problem aller Kindheitsforschung, und zwar auf einem theoretisch hochstehenden Niveau. Damit liegt eine äußerst differenzierte Auseinandersetzung zu einer Frage vor, die relevant ist für alle empirische Forschung zur Perspektive von Kindern. Eine vergleichbare Zusammenfassung liegt bisher nicht vor.

Wir danken Frau Andresen und Herrn Sutterlüthy für die Einordnung der ausgezeichneten Arbeiten in ihre jeweiligen Arbeitszusammenhänge und allen Beteiligten für die spannende Diskussion.

Der Studienpreis 2019 wird wieder in Kooperation mit dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am 23. Mai 2019 von 11 bis 15 Uhr im Raum PEG 4.102 verliehen werden. Vorschläge sind bis zum 1. November 2018 erbeten.

 

2017 / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / /
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Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück.
(Über-)Lebenserinnerungen

Dr. Wiebke Hiemesch

Das Buch fragt aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive nach der Opfergruppe der Kinder in nationalsozialistischen Zwangslagern und begegnet damit einer Leerstelle in der historischen Bildungsforschung.
Seit den 1990er Jahren rücken die jüngsten Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung als ‚letzte Zeuginnen und Zeugen’ verstärkt ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. In der Geschichtswissenschaft erschienen seitdem vereinzelt Studien zu den Kindern als eigener Opfergruppe. Sie stützen sich aber häufig auf Zeugnisse von Erwachsenen und ihren Erfahrungen und bleiben damit erwachsenenzentriert. Hier liegt das Potenzial einer subjektorientierten erziehungswissenschaftlichen Kindheitsgeschichte, die gerade die Lebensbedingungen von Kindern und ihr Erleben im Kontext unterschiedlicher soziohistorischer Konstellationen in den Mittelpunkt stellt. Doch Kinder in nationalsozialistischen Zwangslagern tauchen in erziehungswissenschaftlichen Studien bisher nur kursorisch auf oder sie fehlen ganz. Diesem Desiderat begegnet das Buch von Wiebke Hiemesch.

Kinder hatten in allen nationalsozialistischen Zwangslagern kaum eine Überlebenschance. Auch im (Frauen-)Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden, starb die größte Zahl von ihnen unter verheerenden Bedingungen sowie durch gezielte Tötungsaktionen. Während es von den getöteten Kindern meist keine Zeugnisse gibt, berichten Menschen, die die Lager als Kind überlebten, Jahrzehnte später, wie sie diese Gräuel erlebten. Fünf dieser (Über-)Lebenserinnerungen stehen im Zentrum des Buches. Anhand weiterer Quellen und Dokumente – so beispielsweise Zeichnungen eines Mädchens aus dem Lager – wird darüber hinaus die allgemeine Situation von Kindern in Ravensbrück beschrieben. So zeichnet die Dissertation ein genaueres Bild davon, wer die Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück waren und unter welchen inhumanen Bedingungen sie lebten.
Geleitet durch den erziehungswissenschaftlichen Zugang, ergänzt Wiebke Hiemesch historische Perspektiven auf die nationalsozialistischen Verbrechen um die Opfergruppe der Kinder. Dazu setzt sie sich kritisch mit dem Leitbild bürgerlich-moderner Kindheit auseinander und bespricht die Ergebnisse in einer Geschichte der Kinder im 20. Jahrhundert, die auch gesellschaftshistorische Brüche, Widersprüche und Erosionen des Leitbildes moderner Kindheit mitdenkt. Die Autorin verfolgt damit zudem eine erinnerungskulturelle Zielsetzung, die Leidens- und Lebensgeschichten der als Kind in Zwangslagern eingesperrten Menschen sichtbar zu machen und in ihrer Spezifik anzuerkennen; auch wenn das bedeutet, die Grenzen der eigenen Ausdrucksfähigkeit stets mit zu reflektieren.

Die martha muchow.Stiftung fördert die Veröffentlichung der Arbeit aus zwei Gründen. Zum einen steht die Untersuchung in der Tradition der Arbeit von Martha Muchow. Das betrifft das Bestreben, Kindern Gehör zu verschaffen und Sichtweisen von Kindern weder in der gegenwärtigen Beschreibung sozialer Wirklichkeit zu ignorieren noch deren Lebenswelten und Kulturen in einer Geschichtsschreibung außer Acht zu lassen, auch wenn es dafür unter Umständen unkonventioneller Wege jenseits etablierter Methoden bedarf.

Darüber hinaus leistet die Arbeit einen grundlegenden Beitrag zu einer Theorie der Kindheit, die über eine erziehungswissenschaftliche Perspektive hinausgeht. Die Arbeit untersucht die Historiograhie von Kindheit im KZ im Kontext und als Teil einer Kindheit in der Moderne. Entgegen der Behauptung, es hätte im KZ keine Kindheit gegeben wird deutlich, dass Kindheit im Konzentrationslager zur Kindheit in der Moderne gehört. Sich dieser Dialektik zu stellen hält die martha muchow.Stiftung vor dem Hintergrund der Dialektik der Aufklärung für theoretisch bedeutsam.

Wiebke Hiemesch (2017): Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück. (Über-)Lebenserinnerungen. (Mit einem Vorwort von Meike Sophia Baader).
Beiträge zur Historischen Bildungsforschung Band 50, Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau.
Direktlink: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-50900-2.html

 

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Draußen spielen
Lehrbuch

Dr. Christiane Richard-Elsner

Martha Muchow dürfte heute Schwierigkeiten haben, überhaupt Probandinnen und Probanden für ihre Studien zu finden. Kinder aller Schichten halten sich heute kaum noch draußen, im Wohnumfeld oder im Umfeld ihrer Betreuungseinrichtungen, auf, um selbstbestimmt zu spielen oder um allein ihre Ziele zu erreichen.
Dass das nicht irgendeine Randnotiz und unveränderbare Randerscheinung der Modernisierung der Gesellschaft ist, zeigt die Autorin ausführlich und wissenschaftlich fundiert in ihrem von der Martha-Muchow-Stiftung geförderten Buch „Draußen spielen“, Beltz Juventa 2017. Denn das freie Spiel im Freien, oder Draußenspiel, wie sie es nennt, hat einen hohen Wert für die Entwicklung von Kindern.

Freies Spiel als biologisch bedingter Bestandteil des Verhaltens von Kindern
Zunächst zeigt Christiane Richard-Elsner, dass das Draußenspiel zum biologischen Verhaltensrepertoire des Menschen gehört. Die Historikerin weist darauf hin, dass es im Verlauf der Menschheitsgeschichte unterschiedlich in das Alltagsleben integriert wurde.

Heutige Bedingungen des Aufwachsens
Die Industriegesellschaft ist heute so strukturiert, dass sie mit dem spontanen, zeitvergessenen Tun von Kindern wenig vereinbar ist. Taktungen des Alltags, Funktionentrennung von Privat-, Erwerbs- und Bildungsbereichen, der motorisierte Straßenverkehr, die Konkurrenz durch elektronische Medien lassen zeitlich wie räumlich nur wenige „wilde Ecken“ für Kinder übrig. Dass das so ist, ist nicht nur scheinbar unabänderlichen Abläufen der Moderne geschuldet. In diesem Buch wird auch ein kritischer Blick auf Diskurse in den Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte geworfen, die dazu führten, das freie Spiel im Freien zu marginalisieren.

Entwicklungsförderung
Ausführlich wird darauf eingegangen, dass das Draußenspiel körperliche, psycho-soziale und kognitive Kompetenzen von Kindern stärkt. Draußenspiel und eigenständige Mobilität könnten wesentliche Bestandteile der Alltagsmobilität von Kindern sein und so einen bedeutenden Beitrag zur entwicklungsnotwendigen körperlichen Bewegung leisten. Draußenspiel vermittelt Selbstwirksamkeitserfahrungen, die Kinder befähigen, ein realistisches und optimistisches Selbstkonzept zu entwickeln. Es vermittelt emotionale und praktische Naturerfahrungen und die Kompetenz zum eigenständigen Handeln.

Inklusion des Draußenspiels in den Alltag
Um nicht bei einer Ist-Analyse stehen zu bleiben, wird im letzten Teil des Buches ausführlich auf die Förderung von Möglichkeiten zum Draußenspiel eingegangen, die die Autorin auch aus ihrer langjährigen Tätigkeit als Leiterin der interdisziplinären Arbeitsgruppe Draußenkinder im ABA Fachverband kennt. Kinder benötigen demnach freie Zeit sowie einen Streifraum, in dem sie anregungsreiche Spielräume, am besten auch naturhafte, selbstständig erreichen können. Dies ist auch als Aufgabe von Ganztagsschulen und Kitas zu betrachten. Dass dies durchaus realistisch ist, zeigen z.B. Maßnahmen wie die Spielleitplanung oder die Anlage von Naturerfahrungsräumen. Das freie Spiel im Freien und eigenständige Kindermobilität sind als Funktionen zu betrachten, die der öffentliche Raum vor allem in der Wohnumgebung erfüllen muss.

Die martha muchow.Stiftung hat die Veröffentlichung des Buches gefördert, weil das freie Spiel im Freien einen hohen Wert für die Entwicklung von Kindern hat. Mit dieser Veröffentlichung soll es ein Lehr- und Fachbuch geben, dass umfassend über Aspekte des Draußenspiels informiert und in der Lehre eingesetzt werden kann. Es soll unterstützen, dass sich Forschung z.B. in den Sozialwissenschaften, der Sportwissenschaft und der Umweltwissenschaft interdisziplinär mit diesem Thema beschäftigt.

Christiane Richard-Elsner (2017): Draußen spielen, Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-3693-0
https://www.beltz.de/fachmedien/paedagogik/buecher/produkt_produktdetails/34810-draussen_spielen.html

Eine Kurzfassung findet sich unter dem folgenden link:
https://www.kas.de/analysen-und-argumente/detail/-/content/draussen-spielen-ein-unterschaetzter-motor-der-kindlichen-entwicklung


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Doing Gender und Feeling Gender im Sportunterricht.
Eine leibphänomenologische Ethnografie des spielerischen Zweikämpfens.
Florian Hartnack

Das Kämpfen, Ringen und Raufen ist in unterschiedlicher Ausprägung mittlerweile fester Bestandteil der meisten Lehrpläne für den Sportunterricht in Deutschland. Diesem körperkontaktintensiven Bewegungsfeld werden dabei vielfältige Wirkweisen zugeschrieben, dessen empirischer Nachweis zumeist noch aussteht. Hier setzt die Arbeit des Sportpädagogen Florian Hartnack an.
Im Rahmen der phänomenologischen Studie geht Hartnack der Fragestellung nach, ob das spielerische Kämpfen Geschlechterstereotype aufbrechen kann. Wie in qualitativer Forschung üblich, wurde vorweg keine Hypothese aufgestellt. Vielmehr rückten hermeneutisch-zirkulär spezifische Praktiken der kindlichen Differenzierung von Geschlecht in den Fokus der Beobachtungen.
Methodisch wählte Hartnack hierfür ein ethnografisches Vorgehen. Über teilnehmende Beobachtung partizipierte der Forscher am Sportunterricht. Um sich den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler weiter anzunähern, wurden ergänzend zur teilnehmenden Beobachtung narrative Interviews durchgeführt. Anlehnend an die Theorie und Metaphorik der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz klammerte Hartnack dabei eigene Erfahrungen nicht aus. Stattdessen hielten eigene Gefühle und Gedanken reflexiv Einzug in die Erhebungs- wie Auswertungsphase.
Um eine größtmögliche Offenheit, aber auch intersubjektive und intermomentane Nachvollziehbarkeit zu ermöglichen, wurden die Daten schließlich nach dem Stil der Grounded Theory ausgewertet. Hierbei konnte ein Kategoriesystem leiblicher Praktiken der kindlichen Geschlechterdifferenzierung erstellt werden.

Es zeigte sich, dass die Kinder bereits Räumlichkeiten wie die Turnhalle oder Sportgeräte wie die Turnmatten mit unterschiedlichen Erwartungen und Ängsten assoziieren. So scheint herumliegenden Turnmatten bereits ein Aufforderungscharakter implizit, da diese von vielen Schülern zum Raufen und von einigen Schülerinnen zum Turnen genutzt werden. Typische sozial zugeschriebene Eigenschaften des eigenen Geschlechts werden dabei wie auf einer Bühne stets ausgelebt und vorgespielt. Ein eng-nahkörperlicher und damit auch intensiv-stärker erscheinender Körperkontakt konnte vorrangig bei Jungen beobachtet werden, während ein Großteil „der Mädchen“ eher distanziert-vorsichtiger kämpfte. Eine große Rolle scheint dabei das Beobachten und Beobachtet-Werden zu spielen. In vielfachen Situationen zeigte sich, dass Schüler unter Beobachtung intensiver kämpfen, während viele Schülerinnen unter Beobachtung der Mitschülerinnen und Mitschüler Kämpfe durch Lachen oder dem Betonen von Verletzungen abbrechen. Fühlen sich ebendiese Mädchen nicht beobachtet, fand oftmals ein ähnlich intensives und nahkörperliches Kämpfen wie bei den Jungen statt.

Interpretativ schließt der Sportwissenschaftler Hartnack daraus, dass die Kinder zur Konsolidierung der eigenen Geschlechtsidentität repetitiv ein Gleichgewicht zwischen der beobachtbar körperbezogen-interaktiven Darstellung der eigenen Geschlechtlichkeit durch Reproduktion geschlechtsspezifischer soziokultureller Normierungen (Doing) und der damit verbundenen leiblich-spürbaren Erfahrung, ein bestimmtes Geschlecht zu sein, welche zumeist im Umgang mit Nähe und Distanz und Berührungen bestimmter geschlechtlich konnotierter Leibesinseln entspringt (Feeling), schaffen. Wird dieses Gleichgewicht gestört, indem wie bei den Zweikämpfen der Mädchen nun körperliche Erfahrungen nicht mehr kongruent mit dem Gefühl, ein bestimmtes Geschlecht zu sein, sind, stellen die Kinder über die geschlechtsspezifischen leiblichen Praktiken wie das Lachen, Weinen, Schreien, Darstellen, Anfassen etc. wieder ein Gleichgewicht zwischen Doing und Feeling Gender her.

Didaktisch liegt der der besondere Wert der Ergebnisse einerseits in den konkreten methodisch-didaktischen Ableitungen für den Sportunterricht. In den Zweikampf gesteckte Hoffnungen und Ansprüche korrelieren nicht per se mit der Praxis. Die Ergebnisse lassen erste Überlegungen zu einem geschlechtergerechten Sportunterricht zu. Methodisch bereichert der Versuch einer neophänomenologischen Ethnografie andererseits die Sozial- und Erziehungswissenschaft(en).

Die martha muchow.Stiftung hat die Veröffentlichung der Dissertation gefördert, weil sie neue Perspektiven in der Forschung mit Kindern erschließt. Das ergibt sich zu einem daraus, dass der forschende Wissenschaftler seine eigenen leiblichen Erfahrungen in den Forschungsprozess eingebracht hat, zum zweiten daraus, dass neben der Beobachtung und Interpretation kindlicher Körperpraxen auch die metaphorische Beschreibung der Gedanken und Gefühle von Kindern aufgegriffen wurde. So ergibt sich eine detaillierte Beschreibung kindlicher Praktiken, die den Zusammenhang zwischen gefühltem und dargestelltem Geschlecht aufzeigt.

Florian Hartnack (2017). Doing Gender und Feeling Gender im Sportunterricht. Eine leibphänomenologische Ethnografie des spielerischen Zweikämpfens. Göttingen: V&R unipress. (ISBN 978-3-8471-0774-3)
http://www.v-r.de/de/doing_gender_und_feeling_gender_im_sportunterricht/t-16/1096360/

 

2016 / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / 
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Die Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge.
Faktoren von Inklusion und Exklusion in München und Toronto.

Dr. Annette Korntheuer

Korntheuer-13“Cause we come here with the spirit of going to school. Cause that’s the most important thing. We can. We want. We come here hoping. (….) If you don´t have education you don´t have a future. Because education is something important to gather knowledge. To be somebody.” (Ella, junge Asylsuchende in Toronto)

Sowohl Deutschland als auch Kanada stehen vor der dringlichen gesellschaftlichen Aufgabe, jungen Geflüchteten Teilhabe an Bildung zu ermöglichen. Während in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen häufig die Perspektive der Geflüchteten nicht miteinbezogen wird, versucht diese Studie einen Perspektivwechsel zu initiieren. Auf Basis eines qualitativen Designs gelingt es nicht nur über junge Geflüchtete zu sprechen, sondern ihre eignen Narrative und ihre Sicht auf Bildung aufzugreifen.
Annette Korntheuer untersucht die Bildungserfahrungen junger Geflüchteter sowie Bildungsstrukturen in München und Toronto. Kanada und Deutschland und damit auch die beiden Städte unterscheiden sich zum Teil sehr grundsätzlich in Bezug auf Gesellschaftssystem und Bildungssystem sowie den Umgang mit Geflüchteten.
Während sich Deutschland über Jahre weigert die Tatsache anzuerkennen, dass es ein Einwanderungsland ist und Asylpolitik weitgehend daran orientiert ist, Immigration zu verhindern, versteht sich Kanada als Einwanderungsland. Dies hat nicht nur zur Folge, dass es transparente und geregelte Verfahren gibt, sondern auch Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Ansässigen und Einwanderern. Die kanadische Einwanderungspolitik pflegt Unterschiedlichkeit und geht grundsätzlich davon aus, dass die Eingewanderten im Land bleiben wollen und werden.
In beiden Städten führte Annette Korntheuer qualitative Interviews mit Lehrer_innen, Sozialarbeiter_innen und anderen Expert_innen (N=25) sowie mit jungen Geflüchteten im Alter zwischen 14 bis 24 Jahren (N= 40). Die Erhebung aus der Sicht der Beteiligten ist die Voraussetzung für ein Verständnis von Bildungsteilhabe, das im Spannungsfeld individueller und struktureller Bedingungen betrachtet wird.

Entsprechend lauten die forschungsleitenden Fragen:
 Wie empfinden und beschreiben junge Geflüchtete selbst ihre Bildungssituationen in zwei sehr unterschiedlichen urbanen Kontexten?
 Wie stehen diese Schilderungen wiederum im Zusammenhang mit den vorhandenen Institutionen der Bildungssysteme und den gesetzlichen Regelungen des Flüchtlingsschutzes?

In der Analyse des Datenmaterials kristallisieren sich zwei zentrale Faktoren heraus, die den Zugang und die Teilhabe an Bildung wesentlich beeinflussen:
1) Gruppenspezifisch sind die Biographien der Interviewpartner_innen von ihren Erfahrungen der Pre-, Trans- und Postflucht geprägt. Sie müssen sich mit Verlusterfahrungen, traumatischen Erlebnissen und erschwerten Akkulturationsbedingungen in den Aufnahmestaaten auseinander setzen. Aufgrund ihrer Lebenslagen entwickeln sie jedoch häufig auch Resilienz, Bildungsmotivation und hohe Bildungsaspirationen als biographisch geformte Ressourcen. Diese Studie gibt wichtige Hinweise wie sich diese entwickeln, stabilisieren und destabilisieren. Beschrieben wird dies hier von einem jungen Mann in Toronto: “(…) and the way like I was going to school like secretly and stuff and it was a hardship you know it was struggle I was doing and ah it helped me like where I am right now it was probably- it was hardship but I had that in the past.” (Sam, Toronto)

2) Strukturell ist die Bildungsteilhabe junger Geflüchteter durch Einschränkungen aufgrund institutioneller und struktureller Barrieren gekennzeichnet. Es kann zu institutioneller und struktureller Diskriminierung kommen. Spezifisch für die Gruppe der Asylbewerber_innen sind Exklusionsmechanismen, die sich aus unterschiedlichen Logiken zwischen Asyl- und Bildungssystem ergeben. Ein junger Mann in München beschreibt dies im folgenden Zitat: „Keine Ahnung. Ich, ich weiß nicht welchen Beruf ich muss machen. Weil ich bin mir nicht sicher ob ich kann diesen Beruf, so schaffen eine Ausbildung (…). Seit dem ich hab negativ ich hab viel Angst (—-) und ich kann nicht auch mehr konzentrieren, in meinem zum Beispiel Unterricht und deswegen ich hab auch viel Probleme bekommen.“ (Hussini, München))

Grundlegend ist die Ausgestaltung der Bildungssysteme durch gesellschaftliche Integrationsphilosophien beeinflusst. Diese werden als Differenz zwischen Multikulturalismus und Assimilation deutlich. Kanadischer Mulitkulturalismus zeigt sich in den Schulstrukturen innerhalb Equity und Diversity – Strategien sowie einer verstärkten Individualisierung von Unterricht und Leistungsnormen. Beschrieben wird dies im folgenden Zitat von Mr. Mitchel den Rektor einer Highschool: „(…) I think that what we trying to do is to establish a culture that shows an understanding that for a variety of reasons students cannot always fulfill the institutional expectation without some flexibility and some support. We not targeting the refugee students any more than the students from the high poverty neighbourhoods, than the students with special education needs, or with English language development needs. We just trying to say that there are a students with a lot of different needs, that you need to be aware of in order to effectively educate them. (Mr. Mitchel, Toronto)

Während auf die Anwesenheit von jungen Geflüchteten in München vor allem in Form von Sonderklassen reagiert wird und strukturell sehr klar die Berufsausbildung als Ziel vorgegeben ist, eröffnet die inklusive Beschulung an den Highschools in Toronto Kontaktmöglichkeiten zur Mehrheitsgesellschaft und Zugang zu unterschiedlichen Sekundarabschlüssen.
Die Studie verdeutlicht, dass als praktische Handlungsstrategien zur Stärkung der Inklusion junger Geflüchteter im Bildungssystem Ansätze des Empowerments und der Advocacy und die verstärkte Miteinbeziehung von ethnischen und religiösen Communities sowie Mentoringprogramme in den Bildungssettings angeregt werden können. Um passende Bildungsangebote zu installieren, müssen Geflüchtete und ihre Communities stärker in die Mitgestaltungen von Bildungsstrukturen einbezogen werden.
Politische Interventionen sollten zum Abbau restriktiver Asylregelung führen und Integration als politische Zieldimension für alle jungen Geflüchteten definieren.

Die martha muchow.Stiftung hat den Druck der Dissertation gefördert. Wie Geflüchteten Zugang zu Bildung im weitesten Sinne ermöglicht werden kann ist eine der wichtigen Fragen der Gegenwart und Zukunft. Und die dafür notwendige Kultur lässt sich nur mit den Geflüchteten und unter Berücksichtigung ihrer Vorstellungen und Interessen etablieren. Wesentlicher Gesichtspunkt der Förderung war die für die oben genannten Ziele Voraussetzung, dass die Arbeit die Erhebung der Perspektive der betroffenen Menschen zur Sprache gebracht hat.

Die Dissertation wurde 2016 abgeschlossen. Zur Veröffentlichung geht es unter folgendem Link: http://www.waxmann.com/buch3541

 

2014 / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / 
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Dokumentarfilm: Auf den Spuren von Martha Muchow
Günter Mey und Günter Wallbrecht

Die Stiftung hat sich die Würdigung und Weiterentwicklung des Lebenswerkes von Martha Muchow zur Aufgabe gemacht. Deshalb hat die Stiftung einen Film mitfinanziert, der dem Leben und dem Lebenswerk von Martha Muchow nachgeht.

Am 17. Oktober 2014 wurde dieser Dokumentarfilm „Auf den Spuren von Martha Muchow“ von Günter Mey und Günter Wallbrecht im Hamburger Kino Abaton erstmals öffentlich vorgeführt.
Der Film zeichnet den Forschungsansatz von Martha Muchow nach, die in den 1920/30er Jahren am Hamburger Psychologischen Institut gearbeitet und Kinder im Arbeiterbezirk Barmbek an verschiedenen Orten beobachtet hat. Die Veröffentlichung der Ergebnisse zu „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ hat Martha Muchow nicht mehr erlebt, da sie 1933 angesichts der Repressalien durch das Nazi-Regime Suizid beging.

Anhand von Interviews mit Expertinnen und Experten wird nicht nur die Forschungsarbeit, die heute als „Klassiker der Kindheitswissenschaften“ gilt, gewürdigt, sondern auch der Blick auf die Zeit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gerichtet, die das damalige Psychologische Institut „zerschlugen“. Gerahmt werden die Gespräche durch Filmaufnahmen in Hamburg-Barmbek und inszenierten Szenen der damaligen Studie.

Der Film ist ein Gemeinschaftsprojekt der Hochschule Magdeburg-Stendal, dem Institut für Qualitative Forschung/Internationale Akademie Berlin und ww-media Hamburg.
Gefördert wurde der Film von der martha muchow. Stiftung, der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, dem Kompetenzzentrum Frühe Bildung der Hochschule Magdeburg-Stendal und der Sparda-Bank Hamburg.

Die DVD (46 min., engl. Untertiteln, Bonusmaterial) ist beim Papst Verlag (Lenkerich) zum Preis von 20,00 Euro erhältlich (ISBN 978-3-95853-157-4).

Filmbesprechungen
„Auf den Spuren von Martha Muchow ist eine Filmproduktion, die mit erkennbarer Begeisterung für die Sache gestaltet wurde. Die Darstellung ist ausgewogen, eröffnet neue Aspekte der klassischen Lebensraumstudie von Muchow; in jedem Fall ist sie sehenswert und für Lehrzwecke in Erziehungs-, Sozial- und Geschichtswissenschaften geeignet.“ (Helmut E. Lück; Rezension socialnet, 3.8.2016) https://www.socialnet.de/rezensionen/18309.php
…………………
„Auf je eigene Weise handelt es sich bei Film [Auf den Spuren von Martha Muchow] und Herausgeberband [The Life Space of the Urban Child. Perspectives on Martha Muchow’s Classic Study] um gelungene Würdigungen der Barmbeker Studie und ihrer Autorin. Der Film lässt die schriftlichen Darstellungen äußerst lebendig und anschaulich werden und regt dazu an, sich näher mit dem Werk von Martha Muchow zu befassen – und eignet sich hervorragend für die Lehre in der (Entwicklungs-)Psychologie, Erziehungswissenschaft und Kindheitssoziologie.“ (Manfred Liebel, DISKURS Kindheits- und Jugendforschung 4/2016, S.517) http://www.budrich-journals.de/index.php/diskurs/article/view/25610/22384
…………………
„Der vorliegende Film arbeitet mit sämtlich bekannten Inszenierungsformen, die dem dokumentarischen Film heutzutage zur Verfügung stehen […]. Diese unterschiedlichen Bild- und Tonmaterialien werden so am Leben und Werk Martha Muchows ausgerichtet und zusammengeschnitten, dass die unterschiedlichen Materialien scheinbar wechselseitig miteinander ‚ins Gespräch‘ kommen. […] Der Film ist informativ und beleuchtet sämtliche Aspekte des Lebens und Werks einer bedeutenden, durch die Umstände der Zeit jedoch tragisch in Vergessenheit geratenen Kindheitsforscherin.“ (Carsten Heinze, Zeitschrift für Qualitative Forschung, 18(1), S.162, 164) http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf/article/view/30452/26250
…………………
„Günter Mey und Günter Wallbrecht ist gelungen, interessante Einblicke in die Forschungsmethoden Martha Muchows zu geben und die Lebensraumstudie auch für Studierende zugänglich zu machen. Der Wechsel zwischen historischen und gegenwärtigen Fragen der Kindheitsforschung, aber auch die Darstellung und Diskussion empirischer Forschungsmethoden regt dazu an, sich intensiv mit dem Leben und Werk Martha Muchows […] zu beschäftigen. Gleichzeitig ermutigt der Film, sich selbst mit eigenen Forschungsfragen in die Welt des Kindes zu begeben und zu dem Versuch weitere Fragen über empirische Forschungsmethoden zu beantworten: Ein gelungener und sehenswerter Film, der in jedes sozial- und kindheitspädagogische Studium gehört. (Diana Franke-Meyer, Zeitschrift für Sozialpädagogik 2/2018, S. 210)

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Ästhetische Erfahrung in Spielpraktiken zwei- bis sechsjähriger Kinder
Eine ethnografische Studie im Elementarbereich

Katharina Schneider

Marlin steht vom Tisch auf, betritt die Puppenecke und fragt Elena:
„Elena, willst du hier mitspielen? Arzt oder Patient?“ Freudig lässt Elena
Hammer und Formen liegen, läuft in die Puppenecke und verkündet:
„Ich bin der Arzt!“ Während sie sich nach dem Arztkoffer umsieht, fragt sie:
„Wer hat Aua?“ Helena beobachtet, wie sich Marlin neben Elena auf den 
Boden setzt und ihr mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hand entgegen hält.
„Ich hab Aua. Meine Hand tut weh, auaaa!“, wimmert Martin. „Das wird hier
so um die Hand gelegt“, erklärt Elena und wickelt
 ein kleines Tuch um Marlins Hand.
„Ich guck auch mal in die Ohren“, meint sie dann.

Katharina Schneider hat fast 15 Monate lang Dutzende solcher Situationen in einer katholischen Kindertagesstätte beobachtet und protokolliert. Die Kinder waren zwischen zwei und sechs Jahre alt. In ihrer Dissertation präsentiert sie viele dieser Beobachtungen, die spannend zu lesen sind und dem Leser ermöglichen, sich die Situation vorzustellen oder vielleicht an eigene Erinnerungen ähnlicher Spiele anzuknüpfen. Die Arbeit interpretiert die Beobachtungen im Einzelnen und stellt sie in den Kontext einer Diskussion um die Frage nach den Möglichkeiten einer Beschreibung ästhetischer Erfahrungen junger Kinder.
Elena, Helena und Marlin machen ein „Als-Ob-Spiel“. Sie tun so, als wären sie Arzt und Patient. Nachdem die Hand umwickelt ist und ein Pflaster auf die Wunde aufgeklebt wurde, soll auch noch Fieber gemessen werden. Die Frage ist, wo und wie, in den Mund oder in das Ohr. Man entscheidet sich für das Ohr, weil ein Kind ein entsprechendes Thermometer zu Hause hat und man dann sehen kann „wie viel Fieber ich hab.“

Als Ob-Spiele beginnen in der Regel mit dem Satz: „Ich (oder) wir wären jetzt mal“. Marlins Frage am Anfang enthält praktisch diesen Satz.
Seine Frage enthält die Aufforderung zum Mitspielen und die Übernahme bzw. Verteilung von konkreten Spielrollen. Auch wenn diese sich im Verlauf des Spieles verändern werden.
Die Rollenverteilung und die Handlung machen deutlich, dass die Kinder über Vorwissen verfügen. Sie waren beim Arzt, sie haben bereits erlebt oder zugesehen, wie beispielsweise Fieber gemessen wird. Die betonte Skandalisierung des Schmerzes weist aber auch darauf hin, dass die Kinder die Realität nicht nur nachspielen, sondern auf eigene Weise interpretieren. Katharina Schneider macht an diesem, wie an vielen Beispielen sichtbar, dass die Kinder nicht nur – nicht einmal in erster Linie – mit Worten spielen, sondern ihren realen Leib einsetzen für ein leibliches Spiel. Dies ist Ausdruck von Erfahrungen, Gefühlen und Bedürfnissen und gleichzeitig in der Brechung durch das Spiel kreativer Umgang damit.

Der Blick auf räumliche, materiale und leibliche Prozesse – über die Frage nach der Struktur von Kommunikation und Interaktion hinaus – bildet einen Schwerpunkt der Dissertation. Für ein Als-Ob-Spiel benötigt man einen Raum. Für das Spiel muss dieser vorbereitet werden, in Abhängigkeit von dem konkreten Raum, den vorhandenen Dingen und Materialien und ihrer Anordnung als auch in der Abhängigkeit der Konstruktion des Raums durch die Erzieherinnen und die damit verbundenen und zugelassenen Möglichkeiten der Gestaltung durch die Kinder.
Der Satz „Ich wäre jetzt mal“ ist auch dann „gesagt“, wenn er nicht gesprochen wird, sondern ein Kind entsprechend handelt. Der Spielbeginn eröffnet dann ein mehr oder minder weites Feld, das Katharina Schneider im Anschluss an Goffman „Rahmung“ nennt. Er beschreibt, welche Bedeutung das hat, was gerade getan wird. So wichtig der Körper und das Material auch ist, es spielt zusammen mit einem fiktiven Element von Als-Ob-Spielen: Die spielenden Kinder folgen einer Geschichte. Diese Geschichte ist insofern nicht fiktional, als ein Skript gemeinsam ausgehandelt wird, dass das Vorwissen, die Rolleninteressen der Kinder, die Gegebenheiten der vorhandenen Materialien und eine gewisse Logik für die Abfolge der Geschichte berücksichtigt. Katharina Schneider nennt dies Transformationen und im Anschluss an Nelson Goodman „Weisen der Welterzeugung“. Dazu gehören auch die Erfahrung, Benennung und Transformation ästhetischer Wahrnehmungen und Urteile. Als-Ob-Spiele sind mimetisch: Sie nehmen die reale Welt als Ausgangspunkt, um spielerisch auf Probe zu handeln, indem man sich und damit die Welt verändert. In der Sprache der Pädagogik ist damit ein Bildungsprozess bezeichnet.

Die martha muchow. Stiftung hat die Forschungsarbeit von Katharina Schneider aus mehreren Gründen gefördert. Sie beschäftigt sich mit einer hochkomplexen Frage, die nur interdisziplinär bearbeitet werden kann. Einige Aspekte sind: Erziehungswissenschaft, Kunsttheorie, Entwicklungstheorie, Spieltheorie, Medientheorie usw. Eine Antwort auf die Frage nach ästhetischen Erfahrungen von Kindern im Kindergartenalter hat eine große praktische Bedeutung für die Bedeutung des Freien Spiels in Institutionen. Und die Frage enthält eine große theoretische Herausforderung, nämlich ein Begriffsinventar und eine theoretische Rahmung für einen hochkomplexen Prozess zu erarbeiten, der nur in geringen Teilen sprachlich und in hohem Maße leiblich bestimmt wird. Schließlich hat Katharina Schneider durch die teilnehmende Beobachtung konkreter Kinder, der Protokollierung dessen, was sie tun und sagen, versucht, den subjektiven Sinn dieser Spiele für Kinder zu rekonstruieren. Wir sehen in der konkreten Teilnahme einer Forscherin in dem Feld in dem Kinder handeln, eine Voraussetzung für die Entwicklung einer Theorie kindlicher Entwicklung und Aneignung von Welt.

Katharina Schneider (2017):  Ästhetische Erfahrung in Spielpraktiken von Kindergartenkindern. Eine ethnografische Studie im Elementarbereich.
Weinheim und Basel: Beltz Juventa

 

2013 / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / 
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: … bis nach Istanbul.
Eine Dokumentation von Planung und Ergebnissen einer Forschungsexkursion von Studierenden
der Frühkindlichen Bildung und Erziehung.
Renate E. Horak, Marcus Rauterberg, Elena Schmid (Hrsg.) (2013)

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Der Band dokumentiert eine Exkursion von Studierenden der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg nach Istanbul im Mai 2013. Unter dem Rahmenthema „Istanbul – ein Ort für Kinder? – Orte von Kindern in Istanbul“.
Die Exkursion wurde – im Rahmen zweier Seminare – als Erkundung durchgeführt. Der Bericht über die Exkursion bearbeitet zwei Fragen. Zum einen enthält er Berichte zum Leben von Kindern in Istanbul und zu Istanbul als Lebensraum für Kindern. Da die diesen Berichten zugrundeliegenden Daten mittels teilnehmender Beobachtung gewonnen wurden, enthält der Band auch Hinweise und Reflexionen über die Rolle von Beobachterinnen und Beobachtern in Istanbul. Eingeleitet werden diese beiden Teile durch eine Darstellung der Seminarentwicklung und des Arbeitsprozesses vor dem Aufenthalt in Istanbul, während des Aufenthaltes und danach.
www.widerstreit-sachunterricht.de, Berlin 2013: www.widerstreit-sachunterricht.de (dokumentation1)

Die martha muchow. Stiftung hat die Veröffentlichung der Dokumentation aus mehreren Gründen unterstützt. Es ist einmal Beitrag zu einer sozialökologischen Forschung von Kind und Raum. Und es ist zweitens ein Dokument über die Möglichkeit eines forschenden Lernens von Studierenden, in dem Forschungsergebnisse verbunden werden mit der Reflexion der eigenen Wahrnehmungen und Interpretationen. Die veröffentlichte Dokumentation kann und soll nicht nur zu ähnlichen Exkursionen anregen; sie gibt auch eine Reihe praktischer und theoretischer Hilfen für die Vorbereitung, Durchführung und Reflexion dieser Art studentischer Forschung.

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Hausaufgaben yapmak
Ein ethnographischer Blick auf den Familienalltag
Martina Nieswandt

Es gibt eine Vielzahl von Studien zu Hausaufgaben, aber nur wenige, die beobachten, was es heißt, wenn Kinder in einer Familie ihre Hausaufgaben machen (sollen). Und es gibt keine Forschung, die solche Beobachtungen auf Familien bezieht, die aus unterschiedlichen Gründen mit dem System Schule, mit deren Sprache, mit kulturellen Gewohnheiten und Erwartungen wenig vertraut sind. Genau dies hat Martina Nieswandt in ihrer Forschung unternommen.
Drei Mal je eine Woche (mit halbjährigen Unterbrechungen) war sie in fünf türkischen Familien in der Zeit anwesend, in der Hausaufgaben angefertigt wurden und hat die Situationen in den Familien beobachtet. Mit einem Sprachaufzeichnungsgerät wurden die Dialoge zwischen Kindern und Eltern aufgezeichnet, Aufgabenstellungen oder fertige Hausaufgaben, vor allem ausgefüllte Arbeitsblätter, wurden fotografiert. Die Konzentration auf Familien mit türkischem Migrationshintergrund begründet sich aus der Annahme, dass Kinder aus diesen Familien als besonders bildungsbenachteiligt gelten, weil angenommen wird, dass die Eltern aufgrund ihrer Schulbildung und ihrer Sprachkenntnisse ihre Kinder weniger bei den Aufgaben unterstützen können. Ein Ergebnis der Studie ist dann auch, dass die Art und Weise, wie die Schule Hausaufgaben stellt und formuliert in einer Bildungssprache geschieht, die zu Schwierigkeiten bei der Aufgabenbearbeitung führen kann, selbst dann wenn gute Sprachkenntnisse bei den Eltern vorhanden sind. Die bildungssprachlichen Fertigkeiten werden von den Kindern und ihren Eltern erwartet und vorausgesetzt, ohne dass sie zuvor durch die Schule vermittelt wurden. Der deutsch-türkische Titel der Dissertation „Hausaufgaben yapmak” kann dem Betrachter des Umschlages etwas von dieser schwierige Situation, in der sich Eltern befinden, veranschaulichen: Als deutschsprachiger Leser kann man zunächst nur ein Wort verstehen, das Wort yapmak bleibt unverständlich (es bedeutet „machen”).
Dieses Problem der Existenz zweier Sprachen am Familientisch bei der Durchführung von Hausaufgaben dürfte auch auf viele deutschsprachige Familien zutreffen. Daraus folgen, auch dies zeigt die Studie an vielen genau beobachteten Beispielen, schwierige Gesprächssituationen. Eltern und Kinder bemühen sich gemeinsam um das Verständnis der Aufgabenstellung. Die Eltern wollen und sollen den Kindern helfen, diese wollen und sollen sich helfen lassen und sind gleichzeitig Experten für die Interpretation der schulischen Aufgabenstellung. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit von Martina Nieswandt machen sichtbar, dass es sich bei Hausaufgabensituationen um intergenerationale Tischgespräche zwischen Eltern und Kindern handelt. Diese Gespräche sind dabei von einer Vielzahl unterschiedlicher Rollen und Vorstellungen geprägt. Die Kinder sitzen gewissermaßen als Schüler am heimischen Familientisch. In einer gewissen Weise ist die Schule anwesend und dennoch ist es ein Gespräch zwischen Eltern und Kindern und nicht zwischen Lehrerinnen und Schülern. Welche Bedeutung die Hausaufgaben wiederum in der Schule haben, muss von beiden interpretiert werden, weil es einerseits als wichtig gilt, dass die Hausaufgaben pünktlich und vollständig durchgeführt werden, andererseits nicht klar ist, welchen Anteil eine gute Erledigung der Hausaufgaben an den Noten hat. So ist ein weiteres Ergebnis der Beobachtungen, dass Fehlervermeidung im Mittelpunkt der Diskussionen und Handlungen steht. Es geht Kindern und Eltern darum, ein möglichst fehlerfreies Produkt anzufertigen. Daran wird besonders die Paradoxie der Hausaufgabensituation deutlich. Eigentlich sollen Hausaufgaben zum selbständigen Üben und Wiederholen von Unterrichtsinhalten beitragen oder wie es im hessischen Schulgesetz heißt: „Hausaufgaben ergänzen die Unterrichtsarbeit durch Verarbeitung und Vertiefung und durch Anwendung von Kenntnissen und Fertigkeiten.“ Nicht geregelt ist in dem Gesetz die Alltagssituation, die darin besteht, dass vielen Schülern eben jene in der Schule vermittelten Einsichten fehlen, die nun nur noch vertieft und geübt werden sollen. Selbst ein ggf. mit Hilfe der Eltern erstelltes fehlerfreies Produkt erlaubt keine Rückmeldung über das Gelingen oder Nichtgelingen der angestrebten Lernprozesse. Hausaufgaben gehören als Schulaufgaben an ihren Entstehungsort zurück, nämlich in die Schule und nicht in die Familie – ist die Folgerung der Studie.
Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2013, www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1948.html

Die martha muchow. Stiftung hat die Publikation der Dissertation finanziert. Diese Arbeit stellt eine Verbindung von Schulforschung und Kindheitsforschung her. Indem sie Hausaufgabensituationen in Familien erforscht wird ein neues, bisher brachliegendes Forschungsfeld betreten. Darüber hinaus wird hier im Kontext der Komplexität der Zumutungen und Erwartungen an Kinder in Schule und Familie auch deren Perspektive auf eine Welt dargestellt, die die Erwachsenen ihnen auf eine höchst widersprüchliche Weise präsentieren.

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Umgangsweisen mit Natur(en) in der Frühen Bildung
Marcus Rauterberg, Svantje Schumann (Hrsg.) (2013) 

schneckeSeit gut 10 Jahren lässt sich im elementarpädagogischen Bereich ein Transformationsprozess beobachten. Politisch propagiertes und in Bildungsplänen konkretisiertes Ziel dieses Prozesses ist der Kompetenzerwerb von Kindern im Vorschulalter. Die Fachkräfte werden mit dem Anspruch konfrontiert, mit Kindern umfassende Bildungsarbeit leisten zu sollen. Die Kompetenzen sind, nicht zuletzt wegen der Forderung einer Anschlussfähigkeit, sowohl in Hinblick auf Inhalts- als auch Handlungsaspekte in der Regel schulfachnah formuliert.
Ein prominenter Kompetenzbereich ist die Bildung im Bereich von Natur und/oder Naturwissenschaft. Zahlreiche Konzeptionen, u.a. das sog. „naturwissenschaftliche Experimentieren” oder der „selbstbildende kindliche Umgang mit Natur” wurden entwickelt.
Die Beiträge des Bandes „Umgangsweisen mit Natur(en)” analysieren und reflektieren ausgehend von einer ExpertInnentagung im April 2013 elementar- und schuldidaktische Konzeptionen im Bereich der naturerfahrungsbasierten und der naturwissenschaftlichen Bildung. Im Ergebnis kann dieser Bildungsbereich aus u.a. erziehungswissenschaftlicher und didaktischer Perspektive kaum als zufriedenstellend bestellt angesehen werden – wie die einzelnen Beiträge für den von ihnen jeweils untersuchten Aspekt zeigen. Damit stellt sich auch die Frage an Bildungspolitik, auf welcher argumentativen Basis die Aufnahme bestimmter Konzeptionen in die Bildungs- und Orientierungspläne erfolgt. Die wissenschaftliche Debatte unter Beteiligung von ExpertInnen aus dem Elementar- und Primarbereich, der Didaktik und Erziehungswissenschaft wird auf der Folgetagung 2014 fortgesetzt.
www.widerstreit-sachunterricht.de, Berlin 2013: www.widerstreit-sachunterricht.de/ (Beiheft 9)

Die martha muchow. Stiftung hat die Tagung und die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse unterstützt, weil sie einen Beitrag zu einer besseren theoretischen Fundierung des Sachlernens im Kindergarten leistet.

 

2012 / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / 
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Martha Muchow-Ausstellung der Universität Hamburg
Am 25. September 2012 jährte sich der Geburtstag von Martha Muchow zum 120. Mal

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© UHH, RRZ/MCC, Arvid Mentz

Die Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg nahm diesen Tag zum Anlass, um in der nach Martha Muchow benannten Fakultätsbibliothek eine Ausstellung über ihr Leben, Werk und Wirken zu eröffnen.

Dies ist ein Teil des Versuches, ihre Arbeit, ihre methodische Herangehensweise und ihre Bedeutung für die Geschichte der Erziehungswissenschaften und der Psychologie, präsent zu halten und einzuordnen. Dazu gehört die Büste einer mutigen jungen Frau, deren berufliches und privates Umfeld durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten zerstört wurde. Dazu gehört ein Graffiti-Portrait des Künstlers Philipp Kabbe an einer Betonwand mit Zitaten aus dem Buch „Der Lebensraum des Großstadtkindes”. Dazu gehört aber auch die Veröffentlichung bislang schwer zugänglicher Texte auf der homepage der Fakultätsbibliothek der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Außer ihrer Dissertation “Zur Psychologie des Erziehers” sind dort 16 Aufsätze nachlesbar.
http://www.ew.uni-hamburg.de/de/mmb/ueberuns/muchow.html dort unter „Originaltexte”

Die martha muchow. Stiftung hat diese Ausstellung durch die Finanzierung für die Erstellung eines Ausstellungskonzeptes durch Cynthia Krell & Melanie Pieper und für die Anfertigung einer Büste Martha Muchows durch die Künstlerin Karin Bohrmann-Roth unterstützt.