Was meint: Perspektive von Kindern?

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Die martha muchow.Stiftung unterstützt empirische und nicht-empirische Forschung, wenn sie den in der Satzung formulierten Kriterien
entspricht. Dort heißt es:

„Die Stiftung fördert Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft,
und angrenzender Wissenschaftsgebiete soweit sie versuchen, die Perspektiven und
Handlungsprozesse von Kindern bei ihrer Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Welt
sichtbar und verstehbar zu machen.“

Diese Akzentuierung orientiert sich an einer auch kontroversen Debatte im Kontext der Neuen Kindheitsforschung.

Basisannahme der Stiftungssatzung ist, dass Kinder sich mit der sie umgebenden Welt auseinandersetzen, dass sie darin selbstständig oder
selbsttätig handeln und einen Zugang zu ihrer Welt haben, der sich als ein für Kinder spezifischer beschreiben lässt.
Dieses „kindspezifisch“ unterstellt eine generelle Differenz zu Erwachsenen, die es (überhaupt erst) erlaubt, von Kindheit zu sprechen und
damit von einer Gemeinsamkeit von Kindern, die unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer sozialen und ökonomischen Lage
vorhanden ist. Diese „generelle Differenz“ wird von uns nicht als ontologisch beschreibbare Gegebenheit gesehen, sondern als Ergebnis
einer kulturellen Entwicklung.
Aus dieser Sicht eröffnet die Konstruktion einer grundlegenden und nicht nur graduellen Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen
der Forschung einen größeren Reflexionsraum, weil sie die gegebene Welt der Erwachsenen als historisch, damit als kontingent und
notwendig hinterfragbar versteht.
Die „Perspektive des Kindes“ ist in diesem Sinne eine Forschungsperspektive, die an den Sinndeutungen von Kindern interessiert ist. Anders formuliert: Kinder handeln und können darüber erzählen – sie können Phänomene beschreiben und deuten. Aus welcher Perspektive heraus sie dies tun können sie in der Regel nur kontextbezogen beantworten. Es ist Aufgabe der Interpretation der Forschenden den Zusammenhang zwischen Interpretation des Kindes und dessen Kontext perspektivisch zu beschreiben.

Diese Sichtweise ist nicht unumstritten, es handelt sich vielmehr um eine Position im Kontext einer gesellschaftlich-kulturellen Debatte.
Die martha muchow.Stiftung unterstellt sie aus – letztlich normativen – Überlegungen und fördert insofern ein spezifisches
Forschungsverständnis, das mit bestimmten Erkenntnisinteressen verbunden ist. Dies im Anschluss an das Werk Martha Muchows.

Martha Muchow unterscheidet zwischen einer Welt, in der das Kind lebt, einer Welt, die es erlebt und einer Welt, die es „umlebt“.
„Umlebt“ meint, die vorhandenen Dinge, Normen, Regeln, Situationen usw. in einen spezifisch kindlichen Sinnzusammenhang zu bringen.
Wenn man unterstellt, dass es für Kinder spezifische Möglichkeiten gibt, der Welt, in der sie leben und sich selbst in dieser Welt einen Sinn
zu geben, dann meint Forschung aus der „Perspektive des Kindes“ den Versuch, diesen Sinnzusammenhang zu rekonstruieren.

Die unterstellte andere Weltsicht der Kinder erfordert eine Reflexion der Weltsicht des/der erwachsenen Forschenden. Insofern haben
Forschungen zur Perspektive des Kindes notwendig die Perspektive der Erwachsenen/des Erwachsenen zu reflektieren.

Für die praktisch empirische Forschung hat dies u.a. die Konsequenz, dass sich die Handlungsprozesse von Kindern und deren Zugang
zur Welt nicht erklären, wenn man nur auf die Kinder blickt. Notwendig ist zumindest eine Verschränkung mit dem eigenen Blick auf die Welt,
in der die Kinder handeln, d.h., die Bewusstmachung der eigenen Beziehung zu dieser die Kinder umgebenden Gesellschaft und Kultur.
Zu letzterem gehört auch das eigene Forschungsdesign, das eigene Kindheits- und Menschenbild, die eigene Haltung gegenüber Kindern und
allgemein, die leitenden Annahmen der Zeit, in der man lebt und forscht.
Die Frage ist nicht: „Was erkenne ich an dem Handeln der Kinder?“ Sie lautet vielmehr: „Was veranlasst mich dazu, die Handlungen
der Kinder so zu interpretieren, wie ich es gerade tue?“ Darin ist zweierlei enthalten: die Ergebnisse von Beobachtungen und das Nachdenken
über die eigenen Interpretationen.