Abgeschlossene Projekte

„Objektbegegnungen“ im historischen Museum. Eine empirische Studie zum Wahrnehmungs- und Rezeptionsverhalten von Schüler_innen. Hannah Röttele

Geschichtsdidaktik und Museumspädagogik gehen in der Regel davon aus, dass das Potenzial von Museumsbesuchen mit der Schulklasse durch die ausgestellten Objekte begründet werden kann, denen eine besondere Anschaulichkeit, Aura und Authentizität zugeschrieben wird. Schon früh wurde darauf aufmerksam gemacht, dass diese Begründung den Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozess ausblendet.  Eigentlich sollte die „Objektbegegnung“ – also das, was zwischen Mensch und Objekt passiert – im Zentrum stehen, wenn nach dem Potenzial eines Museumsbesuchs gefragt wird. Dieser Einwand ist Ausgangspunkt der Untersuchung, in der das Wahrnehmungs- und Rezeptionsverhalten von Schüler_innen bei einem museumspädagogisch betreuten Besuch im Historischen Museum in den Blick genommen und per Videokamera aufgezeichnet wurde. Dabei waren folgende Forschungsfragen leitend:

Wie handeln Schüler_innen bei einem museumspädagogisch betreuten Museumsbesuch?
Welche Relevanz besitzen „Objektbegegnungen“ dabei?
Wie lassen sich „Objektbegegnungen“ beschreiben?

Beobachtet wurden Schüler_innen der 7. Klasse, die das Historische Museum Hannover besuchten und am museumspädagogischen Programm „Objekterkundung, Stadt im Mittelalter“ teilnahmen. Dieses gliedert sich in zwei zeitliche Phasen: In einer ersten Phase arbeiten die Schüler_innen mit Erkundungsbögen, die unterschiedliche Themenschwerpunkte haben, an ausgewählten Objektstationen; in einer zweiten Phase führen die Kleingruppen durch die Ausstellung und stellen sich ihre Arbeitsergebnisse gegenseitig vor. Die Videodaten, wurden mit der sozialwissenschaftlich-phänomenologischen Analyse ausgewertet.

Ergebnisse
„Objektbegegnungen“ sind im Rahmen des museumspädagogischen Programms selten und relativ kurz. Wenn sie dennoch beobachtet werden können, liegen ihnen bestimmte räumliche und zeitliche Verhältnisse zugrunde. Räumlich ist entscheidend, dass die Sicht auf das Objekt freigegeben wird; die zeitlichen Verhältnisse können als „Eigenzeit“ beschrieben werden, denn sie verlangen, dass alle Aufmerksamkeitskräfte auf das Objekt ausgerichtet sind. Ein wesentlicher Faktor, der Einfluss auf die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse nimmt und „Objektbegegnungen“ begünstigt oder ihnen eher entgegensteht, ist das museumspädagogische Rahmenprogramm, denn dieses legt fest: a) wo sich die Schüler_innen aufhalten (sollen); b) was die Schüler_innen tun (sollen) und c) wieviel Zeit ihnen für ihr Tun zur Verfügung steht. In einem ersten Schritt konnte gezeigt werden, wie das museumspädagogische Rahmenprogramm auf die Konstitution räumlicher und zeitlicher Verhältnisse einwirkt.

In einem weiteren Schritt wurden die „Objektbegegnungen“ selbst in den Blick genommen, die im leiblichen Handeln der Schüler_innen ihren Ausdruck finden (z.B. Sprechakt, Gestik, Mimik). Ausgehend vom Handeln konnte auf die Wahrnehmung der Schüler_innen geschlossen werden, die dem Handeln stets vorausgeht. Es konnte herausgearbeitet werden, dass der Wahrnehmung eine spezifische Struktur zugrunde liegt, die durch die strukturelle Grunddisposition des Objekts (z.B. seine Beschaffenheit, seine Form und Materialität) mitgeformt wird. Wahrnehmung und Vorstellungsbildung waren dabei nicht voneinander zu trennen, denn im leiblichen Handeln der Schüler_innen wurde deutlich, dass dieses einen „Bedeutungsüberschuss“ enthält, der über die eigentliche Wahrnehmung hinausgeht und auf die Vorstellungsbildung verweist. So konnte das Potenzial der „Objektbegegnung“ als ein wahrnehmungs- und vorstellungsbildendes beschrieben werden. Dabei wurden unterschiedliche Objektarten (historische Sachzeugnisse, eine Stadtansicht und ein Stadtmodell) getrennt voneinander betrachtet, da ihr wahrnehmungs- und vorstellungsbildendes Potenzial unterschiedlich sind: Im Fall von historischen Sachzeugnissen konnte gezeigt werden, dass diese die Sinne und Affekte in besonderer Art und Weise ansprechen, während Stadtansicht/Stadtmodell eine räumliche Vorstellung aufzurufen vermögen. Das jeweilige wahrnehmungs- und vorstellungsbildende Potenzial wurde anschließend daraufhin ausgelotet, inwiefern es für die Aneignung von Geschichte nützlich sein kann. Dabei konnten Chancen und Fallstricke aufgezeigt werden.

Fazit
Insgesamt plädiert die Dissertation dafür, das Museum bei einem Besuch mit der Schulklasse weniger als einen kognitiven Lernort zu begreifen, sondern als einen Ort, an dem eine spezifische ästhetische Erfahrung gemacht wird, die ein kognitives Lernen jedoch nicht ausschließt. Diese Erfahrung ist leibbasiert und bezieht den gesamten Menschen, seine Sinne und Affekte mit ein. Das bedeutet für die museumspädagogische Arbeit, die sich ihrem Potenzial bewusst ist, auf eine Entfaltung von Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildung zu zielen und dabei auch körperliche Erfahrungen und Handlungen mit einzubeziehen, die etwa den Tast- und Bewegungssinn miteinschließen. Darüber hinaus macht die Arbeit deutlich, dass ein historisches Lernen, das auf Wahrnehmung- und Vorstellungsbildung abzielt, nicht auf das Museum beschränkt bleiben sollte, sondern davon ausgegangen werden muss, dass es überall dort an Relevanz gewinnt, wo in der Auseinandersetzung mit Geschichte eine nachhaltige Erfahrung zurückbleiben soll.

Die Arbeit wurde mit dem Arnold-Vogt-Preis für Museumspädagogik 2019 ausgezeichnet.

Hannah Röttele (2020): „Objektbegegnungen“ im historischen Museum. München: kopaed. ISBN: 978-3-86736-544-4

https://www.kopaed.de/kopaedshop/?pg=2_15&pid=1220

 

Ästhetische Erfahrung in Spielpraktiken zwei- bis sechsjähriger Kinder. Eine ethnografische Studie im Elementarbereich. Katharina Schneider

Marlin steht vom Tisch auf, betritt die Puppenecke und fragt Elena: „Elena, willst du hier mitspielen? Arzt oder Patient?“ Freudig lässt Elena Hammer und Formen liegen, läuft in die Puppenecke und verkündet: „Ich bin der Arzt!“ Während sie sich nach dem Arztkoffer umsieht, fragt sie:
„Wer hat Aua?“ Helena beobachtet, wie sich Marlin neben Elena auf den Boden setzt und ihr mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hand entgegen hält. „Ich hab Aua. Meine Hand tut weh, auaaa!“, wimmert Martin. „Das wird hier
so um die Hand gelegt“, erklärt Elena und wickelt ein kleines Tuch um Marlins Hand. „Ich guck auch mal in die Ohren“, meint sie dann.

Katharina Schneider hat fast 15 Monate lang Dutzende solcher Situationen in einer katholischen Kindertagesstätte beobachtet und protokolliert. Die Kinder waren zwischen zwei und sechs Jahre alt. In ihrer Dissertation präsentiert sie viele dieser Beobachtungen, die spannend zu lesen sind und dem Leser ermöglichen, sich die Situation vorzustellen oder vielleicht an eigene Erinnerungen ähnlicher Spiele anzuknüpfen. Die Arbeit interpretiert die Beobachtungen im Einzelnen und stellt sie in den Kontext einer Diskussion um die Frage nach den Möglichkeiten einer Beschreibung ästhetischer Erfahrungen junger Kinder.

Elena, Helena und Marlin machen ein „Als-Ob-Spiel“. Sie tun so, als wären sie Arzt und Patient. Nachdem die Hand umwickelt ist und ein Pflaster auf die Wunde aufgeklebt wurde, soll auch noch Fieber gemessen werden. Die Frage ist, wo und wie, in den Mund oder in das Ohr. Man entscheidet sich für das Ohr, weil ein Kind ein entsprechendes Thermometer zu Hause hat und man dann sehen kann „wie viel Fieber ich hab.“

Als Ob-Spiele beginnen in der Regel mit dem Satz: „Ich (oder) wir wären jetzt mal“. Marlins Frage am Anfang enthält praktisch diesen Satz. Seine Frage enthält die Aufforderung zum Mitspielen und die Übernahme bzw. Verteilung von konkreten Spielrollen. Auch wenn diese sich im Verlauf des Spieles verändern werden. Die Rollenverteilung und die Handlung machen deutlich, dass die Kinder über Vorwissen verfügen. Sie waren beim Arzt, sie haben bereits erlebt oder zugesehen, wie beispielsweise Fieber gemessen wird. Die betonte Skandalisierung des Schmerzes weist aber auch darauf hin, dass die Kinder die Realität nicht nur nachspielen, sondern auf eigene Weise interpretieren. Katharina Schneider macht an diesem, wie an vielen Beispielen sichtbar, dass die Kinder nicht nur – nicht einmal in erster Linie – mit Worten spielen, sondern ihren realen Leib einsetzen für ein leibliches Spiel. Dies ist Ausdruck von Erfahrungen, Gefühlen und Bedürfnissen und gleichzeitig in der Brechung durch das Spiel kreativer Umgang damit.

Der Blick auf räumliche, materiale und leibliche Prozesse – über die Frage nach der Struktur von Kommunikation und Interaktion hinaus – bildet einen Schwerpunkt der Dissertation. Für ein Als-Ob-Spiel benötigt man einen Raum. Für das Spiel muss dieser vorbereitet werden, in Abhängigkeit von dem konkreten Raum, den vorhandenen Dingen und Materialien und ihrer Anordnung als auch in der Abhängigkeit der Konstruktion des Raums durch die Erzieherinnen und die damit verbundenen und zugelassenen Möglichkeiten der Gestaltung durch die Kinder.
Der Satz „Ich wäre jetzt mal“ ist auch dann „gesagt“, wenn er nicht gesprochen wird, sondern ein Kind entsprechend handelt. Der Spielbeginn eröffnet dann ein mehr oder minder weites Feld, das Katharina Schneider im Anschluss an Goffman „Rahmung“ nennt. Er beschreibt, welche Bedeutung das hat, was gerade getan wird. So wichtig der Körper und das Material auch ist, es spielt zusammen mit einem fiktiven Element von Als-Ob-Spielen: Die spielenden Kinder folgen einer Geschichte. Diese Geschichte ist insofern nicht fiktional, als ein Skript gemeinsam ausgehandelt wird, dass das Vorwissen, die Rolleninteressen der Kinder, die Gegebenheiten der vorhandenen Materialien und eine gewisse Logik für die Abfolge der Geschichte berücksichtigt. Katharina Schneider nennt dies Transformationen und im Anschluss an Nelson Goodman „Weisen der Welterzeugung“. Dazu gehören auch die Erfahrung, Benennung und Transformation ästhetischer Wahrnehmungen und Urteile. Als-Ob-Spiele sind mimetisch: Sie nehmen die reale Welt als Ausgangspunkt, um spielerisch auf Probe zu handeln, indem man sich und damit die Welt verändert. In der Sprache der Pädagogik ist damit ein Bildungsprozess bezeichnet.

Die Martha-Muchow-Stiftung hat die Forschungsarbeit von Katharina Schneider aus mehreren Gründen gefördert. Sie beschäftigt sich mit einer hochkomplexen Frage, die nur interdisziplinär bearbeitet werden kann. Einige Aspekte sind: Erziehungswissenschaft, Kunsttheorie, Entwicklungstheorie, Spieltheorie, Medientheorie usw. Eine Antwort auf die Frage nach ästhetischen Erfahrungen von Kindern im Kindergartenalter hat eine große praktische Bedeutung für die Bedeutung des Freien Spiels in Institutionen. Und die Frage enthält eine große theoretische Herausforderung, nämlich ein Begriffsinventar und eine theoretische Rahmung für einen hochkomplexen Prozess zu erarbeiten, der nur in geringen Teilen sprachlich und in hohem Maße leiblich bestimmt wird. Schließlich hat Katharina Schneider durch die teilnehmende Beobachtung konkreter Kinder, der Protokollierung dessen, was sie tun und sagen, versucht, den subjektiven Sinn dieser Spiele für Kinder zu rekonstruieren. Wir sehen in der konkreten Teilnahme einer Forscherin in dem Feld in dem Kinder handeln, eine Voraussetzung für die Entwicklung einer Theorie kindlicher Entwicklung und Aneignung von Welt.

Katharina Schneider (2017):  Ästhetische Erfahrung in Spielpraktiken von Kindergartenkindern. Eine ethnografische Studie im Elementarbereich. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. ISBN: 978-3-7799-4646-5

https://www.beltz.de/fachmedien/fruehpaedagogik/produkte/details/34403-aesthetische-erfahrung-in-spielpraktiken-von-kindergartenkindern.html