Panellesungen in der Grundschule. Eine rekonstruktive Fallstudie zu multimodalen Transformationen des Comics
Lehmriese lebt! Caroline Wittig
Die Fallstudie ist zwischen Grundschulpädagogik, literarischer Rezeptions- und sprachdidaktischer Kommunikationsforschung angesiedelt. Sie rekonstruiert, wie Grundschulkinder Panellesungen (Comiclesungen mit selbst erzeugten Geräuschen) erarbeiten und gestalten. Ausgehend von detaillierten Beschreibungen des kindlichen Tuns fragt sie danach, welche pädagogischen, sprachlichen und literarischen Potenziale die Inszenierung eines Comics als gemeinsame Panellesung eröffnet.
Die hier gestellte Inszenierungsaufgabe bietet durch ihre Ergebnisoffenheit vielfältige Umsetzungsmöglichkeiten und schafft Spielräume für Aushandlungen im Arbeitsprozess. Der dafür ausgewählte Golem-Comic Lehmriese lebt! (Kuhl, 2015) macht kindliches Spiel ebenso zum Thema wie kreatives Schaffen, wodurch sich die Geschichte auch inhaltlich für spielerische und kreative Umgangsweisen eignet.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurden Situationen der Erstrezeption des Comics sowie seine Inszenierung als Panellesung in einer jahrgangsgemischten Lerngruppe der Schulbesuchsjahre eins bis vier mit Ton- und Videoaufnahmen dokumentiert und anschließend transkribiert. Die Analysen fokussieren drei in ihren Inszenierungsprozessen äußerst unterschiedlich agierende Kindergruppen sowie drei zentrale Kapitel des Comics: Über Nacht (in dem der Golem zum Leben erwacht), Beim Eismann (das vom Suchen des Golems nach einer Aufgabe erzählt) und Auf dem Dach (in dem es um das Finden der Aufgabe geht). Mithilfe der Key Incident Analyse werden hier Schlüsselstellen aufgespürt und in Hinblick auf multimodale Handlungspraktiken befragt.
Bedeutende Ergebnisse zeigen sich im Vergleich von Erstrezeption und Inszenierung des Comics, im Vergleich der einzelnen Kindergruppen und im Vergleich der verschiedenen Golemszenen. Die Inszenierung erweitert und verändert in ihren Handlungspraktiken die Erstrezeption, indem sie beispielsweise durch die Verwendung von Instrumenten sprachliches Handeln in Ding-praktisches Tun überführt oder die Ziel- zu einer Spielorientierung werden lässt. Gleichzeitig eröffnet die Inszenierungsaufgabe den Kindern verstärkt Gelegenheiten zur Mitwirkung und Teilhabe. Im Vergleich der Kindergruppen zeigen sich drei jeweils dominierende Spielweisen, in denen unterschiedliche Handlungspraktiken und Inszenierungsmittel im Vordergrund stehen: Die Fokussierung auf Geräusche erlaubt eine Partizipation in ‚Ding-Praktiken‘, der Einsatz des ganzen Körpers während der Lesung entschleunigt und vertieft insbesondere die Rezeption der Bilder und das Zusammenspiel von Kinderstimmen lässt individuelle Figuren, aber auch gemeinsame Klangmuster entstehen. Die verschiedenen Golemszenen sind mit entsprechend unterschiedlichen Transformationen verbunden – das Erwachen mit Steingeschepper, das Suchen mit Sprachlauten und Rhythmen, das Finden mit intertextuellem Schlusssatz: „Und so gingen sie weiter auf die sonnenbeschienene Straße.“
Die komparativen und rekonstruktiven Analysen erlauben Rückschlüsse auf Potenziale von Panellesungen. Diese liegen in der Zugehörigkeit, der multimodalen Sprachbildung sowie dem Innehalten, Erfahren und Erzählen. Denn unabhängig von Sprache und Alter äußern die Kinder Ideen zur Gestaltung des Comics als Panellesung und kooperieren, wenn es die Situation erfordert. Weiterhin stimulieren Panellesungen die multimodale Interaktion, indem sie die Kinder herausfordern, Worte, Stimme(n), Gesten und Dinge gleichermaßen zu gebrauchen. Zuletzt ermöglichen Panellesungen eine angereichte Imagination, die aus der durch die Inszenierungsaufgabe angeregten Entschleunigung der Rezeption erwächst.
Damit erzählt die Studie Lerngeschichten zum Umgang mit Comics in Panellesungen. Diese Geschichten schenken Vertrauen in das eigenständige Lernen von Kindern. Gleichzeitig zeigen sie die Bedeutung komplexer, kooperativer und anregender Aufgabenstellungen insbesondere für den inklusiven Unterricht.
Caroline Wittig (2022): Pannellesungen in der Grundschule. Eine rekonstruktive Fallstudie zu multimodalen Transformationen des Comics Lehmriese lebt! Münster u. a.: Waxmann. ISBN: 3830945760
https://www.waxmann.com/buch4576
Junge Geflüchtete an der Grenze. Eine Ethnografie zu Altersaushandlungen. Laura K. Otto
Weltweit sind immer mehr junge Menschen alleine auf der Flucht. Wenn sie in Europa ankommen, wird ein Teil
von ihnen als sogenannte „unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge (‚UMF‘)“ eingeteilt. Nationalstaaten, die (junge)
Geflüchtete aufnehmen, streben nach der Herstellung von Eindeutigkeit in Bezug auf ihr Alter, wofür mittels Altersfest-
stellungsverfahren die Minderjährigkeit belegt oder widerlegt werden soll. An diese geschaffenen Eindeutigkeiten und
Fixierungen sind Bedingungen von Aufnahme und sozial-rechtlicher Positionierung der Geflüchteten gebunden.
Während also bürokratische Verfahren geschaffen wurden, um diese Eindeutigkeiten festzustellen, zeigt der Alltag im Grenzregime jedoch, dass sowohl geflüchtete als auch nicht-geflüchtete Akteur*innen diese herausfordern, umkehren, produktiv für sich nutzen oder auch gegen andere verwenden.
Hieraus ergeben sich folgende Fragen: Wie gehen die eingeteilten jungen Menschen mit dieser Kategorie des ‚UMF‘ um? Wie erleben und navigieren sie ihr Ankommen in Europa? Und was machen die sie Einteilenden und Verwaltenden mit und aus der Kategorie des ‚UMF‘? Die Ethnografie von Laura K. Otto widmet sich diesen Fragen am Beispiel von Malta und adressiert damit eine wichtige Forschungslücke.
Zwischen 2013 und 2018 forschte die Autorin entlang der europäischen Außengrenze zum Ankommen junger Menschen aus Somalia. Es gelang ihr, Beziehungen sowohl zu den jungen Menschen, aber auch institutionellen Akteur*innen aufzubauen. Die Studie macht dank dieser Einblicke in den Alltag der Menschen sicht- und verstehbar, welche zentrale Rolle das Alter junger Geflüchteter im Grenzregime einnimmt und zeigt entlang des dichten empirischen Materials auf, wie wirkmächtig die Einteilung als ‚UMF‘ ist. Im Ergebnis zeigt die Studie, dass Alter keineswegs eine eindeutige Kategorie ist, sondern vielmehr dynamisch ausgehandelt wird.
Die ethnographische Langzeitstudie hat genau diese Dynamiken zum Gegenstand. Es ist der Autorin gelungen, aufzuzeigen, wie Selbst- und Fremdpositionierungen, Zugänge zu Ressourcen sowie Agency unter stark asymmetrischen und durchmachteten Bedingungen verhandelt werden. Es wurden dafür sowohl strukturelle als auch subjektbezogene Facetten analysiert. Forschungstheoretisch orientiert sich die Studie an Konzepten der transnationalen Migrations- sowie Grenzregimeforschung. Der analytische Blick wird primär in Subjektforschung, sozialkonstruktivistischen Raumtheorien, postkolonialen Theorien sowie Intersektionalitätsforschung eingebettet.
Die Studie liefert wichtige Einblicke in die Perspektiven junger Geflüchteter und erwirkt somit bei den Lesenden ein besseres Verständnis für ihre Situation, denn sonst wird häufig über sie statt mit ihnen gesprochen. Dank des Ansatzes, nah an den jungen Geflüchteten zu forschen, gibt die Studie Einblicke in ihre Fähigkeiten und Wünsche jenseits der Kategorie des ‚minderjährigen Flüchtlings‘. Somit bietet die Studie einen ganz neuen (analytischen) Rahmen um über Flucht und Ankommen junger Menschen in Europa nachzudenken. Das Werk dient dazu, Vorurteile abzubauen – wie z. B. die des Asylmissbrauchstäters oder des hilflosen Opfers – da sie differenziert aufzeigt, wie die jungen Geflüchteten mit der Kategorie des ‚UMF‘ umgehen und sie als aktive Gestalter*innen ihrer Lebenswelt präsentiert.
Die Martha-Muchow Stiftung hat die Arbeit gefördert, weil sie sehr genau ist in der Beobachtung und Beschreibung des Umgangs mit jungen Geflüchteten im europäischen Grenzregime. Der Autorin ist es dabei nicht nur gelungen, analytische Schärfe zu beweisen, sondern räumt den im Diskurs sonst unterbeleuchteten Perspektiven der jungen Geflüchteten ausreichend Raum ein. Das Buch präsentiert zudem wichtige methodisch innovative Impulse für die Forschung mit jungen Geflüchteten. Das Werk ist sehr gut zu lesen, ist methodisch und methodologisch fundiert und hat dennoch oder gerade deshalb eine hohe praktische Relevanz.
Laura K. Otto (2020): Junge Geflüchtete an der Grenze. Eine Ethnografie zu Altersaushandlungen. Frankfurt/New York: Campus. ISBN: 9783593513072
Zeichnen als Bildungschance im Kindergarten. Wie 5- bis 6-jährige Kinder agieren, wenn sie dazu angeregt sind, an Gegenständen und Szenen orientiert zu zeichnen. Anja Morawietz
Das Forschungsprojekt geht der Frage nach, wie Kinder im Vorschul- und Grundschulalter im Unterricht agieren, wenn sie im Sinne der ästhetischen Bildung dazu angeregt werden, zu bestimmten Motiven eigene Bildlösungen zu finden. Die videobasierte Studie macht sicht- und verstehbar, was den Kindern in diesem Unterricht wichtig ist und welche Handlungsweisen sie zum Einsatz bringen, wenn sie auf der Suche nach bildnerischen Lösungen für ihre Vorstellungen sind.
Es gibt noch kaum wissenschaftlich gesichertes Wissen zum Zeichnenlernen 5- bis 6- jähriger Kinder im Rahmen von Unterricht. In der Praxis halten sich zwei überlieferte Vorstellungen davon, wie Zeichnen zu unterrichten sei. Die eine orientiert sich an Vorschlägen aus Hans Witzigs Buch (1949) mit dem Titel „Punkt, Punkt, Komma, Strich“. Hier instruiert die Lehrperson, ausgerichtet an der Bildsprache und der Zeichenfähigkeit der Kinder, Schritt für Schritt zu einer bestimmten Darstellung. Diese unterrichtliche Vorgehensweise unterbindet jedoch tendenziell die eigene zeichnerische Formsuche der Kinder und damit vermutlich den gestalterischen Prozess, der zentralen Bildungswert besitzt. Die gegenteilige Auffassung ist aus der Reformpädagogik hervorgegangen. Das Kind sei im gestalterischen Unterricht sich selbst zu überlassen, in der Annahme, alles müsse aus der ,natürlichen’ Schöpferkraft des Kindes kommen. Das Kind bleibt bei dieser Art von gestalterischem Unterricht in seiner zeichnerischen Entwicklung tendenziell eher stehen, als einen Schritt in die nächste erreichbare Lernerfahrung zu wagen.
In der vorliegenden Studie wird Zeichnenlernen im Unterricht mit 5- bis 6-jährigen Kindern untersucht, der Zeichnen als prozesshafte Suche nach einer Form für das Motiv erachtet. Dabei leiten und beeinflussen konkrete Aufgabenstellungen und Impulse die zeichnerischen Prozesse der Kinder. Mit dem didaktischen Rahmen wird den Kindern bewusst die Möglichkeit eröffnet, sich wahrnehmend auf einen bestimmten Ausschnitt von Welt zu konzentrieren (Kühe auf dem Bauernhof), dabei Wissen zu sammeln und dieses dann ordnend und fabulierend zeichnerisch zu Papier zu bringen. Ferner können die Kinder die Zeichnung in ihrer kommunikativen Funktion erfahren und erproben.
Die Videodaten ermöglichen einen differenzierten Blick auf das eigentliche Lerngeschehen im Unterricht. Sie zeigt, inwiefern der umrissene Unterricht zum gegenstandsorientierten Zeichnen im Kindergarten fruchtbar und sinnvoll ist, wo sich Stolpersteine zeigen und welche Bildungschancen sich darin ergeben. Diese Erkenntnisse fliessen in die Lehrerinnenbildung und in den kunstpädagogischen Diskurs ein.
Die Martha-Muchow Stiftung hat die Arbeit gefördert, weil sie – didaktisch und methodisch gut geplant – sehr genau ist in der Beobachtung und Beschreibung des kindlichen Verhaltens. Die Autorin formuliert relevante Unterscheidungskategorien bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Komplexität des Geschehens. Sie ist gut zu lesen und man wünscht sich, dass sie von anderen zur Kenntnis genommen wird, seien es Forscher/innen oder Praktiker/innen.
Anja Morawietz (2020): Zeichnen als Bildungschance im Kindergarten. Wie 5- bis 6-jährige Kinder agieren, wenn sie dazu angeregt sind, an Gegenständen und Szenen orientiert zu zeichnen. München: kopaed Verlag. ISBN: 978-3-86736-513-0
http://www.kopaed.de/kopaedshop/?pg=2_15&pid=1250
Räume schaffen. Eine explorative Fallstudie am Beispiel der Vermittlung von Site-specific Performance Art in der Primarstufe. Anna Stern
Anna Sterns Forschungsinteresse entstand aus Fragen, die sich aus ihrer Praxis als Performance-Künstlerin und Kunst-Vermittlerin entwickelt haben. Sie betreibt und vermittelt eine zeitgenössische Spielart der Bildenden Kunst, Site-specific Performance Art. Ortsspezifische Performance-Kunst spielt mit den Wechselwirkungen zwischen konkretem Ort, Akteur*in, künstlerischer Handlung und dem Publikum, das meist deutlich stärker involviert wird als in klassischen Theateraufführungen. In vielen Seminaren und Workshops konnte sie feststellen, dass eine Beschäftigung mit dieser Kunstform Erwachsene dazu bringt, sich Orte über das Medium einer ästhetischen Erfahrung anzueignen und diese Erfahrung als selbstermächtigend zu erleben. Für Kinder ist eine solche Praxis und Erfahrung – wenn sie denn die Chance dazu haben – fast selbstverständlich, dies zeigte schon Martha Muchows Lebensraumstudie, in der sie u.a. beobachtet hat, wie Kinder Objekte, Strukturen und Orte der Erwachsenenwelt umwidmen, um sie in die eigenen Geschicklichkeits- und Phantasiespiele zu integrieren.
Anna Sterns explorative Fallstudie fragt nun danach, welche Formen des Raumschaffens bzw. Spacings beobachtbar sind, wenn Kinder in einem kunstpädagogischen Unterrichtssetting für außerschulische Orte Performances erfinden, und wie die entstehenden symbolischen Räume beschrieben und gedeutet werden können. Sie bezieht sich dabei auf ein performatives und relationales Verständnis von Handlung, Raum und Bildung, das sie aus handlungs- und bildungstheoretischen, raumsoziologischen und kunstwissenschaftlichen Konzepten destilliert.
Den Rahmen für die Empirie bot ein kunstdidaktisches Seminar. Hier konnten Studierende selbst erste künstlerische Erfahrungen mit ortsspezifischer Performance-Kunst machen und auf dieser Basis ein didaktisches Konzept für eine Projektwoche entwickeln, an der Kinder einer 3. und 4. Klasse der St. Bernhard-Grundschule in Rulle teilnahmen. Das Kultur- und Begegnungszentrum dieser ländlichen Gemeinde, das Ruller Haus, eignete sich als außerschulischer Ort besonders gut für das Projekt. Allen Kindern bekannt, war es ein positiv besetzter Ort ihrer Lebenswelt, der zugleich unbekannte Bereiche bot. Während der Projektwoche wurden Räume geöffnet, die im Normalbetrieb verschlossen sind, Erdkeller, Domestikenkammer, Dachboden, Vorratskeller. Diese Räume waren voller geheimnisvoller Spuren und Relikte der 700-jährigen Geschichte des Gebäudes als Wallfahrtsort, Dorfschule und Forsthaus und zugleich einer aktuellen Nutzung enthoben. Dies eröffnete den Kindern Handlungsspielräume, um den Orten über ihre Performances eine eigene Bedeutung zu geben. Der Arbeitsauftrag lautete: ‚Suche Dir einen Ort im oder um das Ruller Haus aus und erfinde für diesen Ort eine Performance.‘ Die Kinder arbeiteten in Duos, Kleingruppen oder solistisch an den Orten ihrer Wahl, betreut von den Studierenden. Am Ende der Woche konnten Eltern, Lehrer*innen und andere Schüler*innen über das Gelände und im Haus herumstreifen und die Performances, die jeweils nur wenige Minuten dauerten und wiederholt wurden, nach und nach erleben. Dabei entstanden insgesamt 18 Performance-Videos, die den zentralen Datenkorpus der Studie ausmachen, flankiert von ebenfalls videodokumentierten Gruppeninterviews mit den Kindern an den Orten ihrer Performances.
Anna Stern befragte sie zur Ortswahl, zur Entwicklung der Performance, zum Gruppenprozess und zu ihren Erfahrungen während der Aufführung. Die Interpretation der Interviews hatte zum Ziel, Deutungen, Motive und Narrative der Kinder zu rekonstruieren und diese mit den Deutungen der Performance-Videos in einen vergleichenden Dialogzu bringen.
Ergebnisse
Im Überblick über die 18 Performance-Videos beschreibt die Studie drei zentrale Räume, die durch unterschiedliche Spacingformen geschaffen werden: Objekt-Raum, Klang-Raum und sozialer Raum, der noch einmal in Akteur- und Zuschauer-Raum differenziert wird.
Auf der Ebene des Objekts-Raums werden Dinge ein-, aus- und umgeräumt, mitgebracht oder vor Ort ‚entdeckt‘, konventionell genutzt, aber ebenso oft auch umgewidmet: Ein Stein wird zum Rhythmusinstrument, eine Astschere zum Nussknacker, ein Brett auf einem Hocker zur Wippe. Dies verweist auf den Stellenwert, den Objekte als Träger kultureller Praxen und Werte für die kindliche Lebenswelt haben, aber ebenso auf ihren noch fluiden Status. Auf der Ebene des Zuschauer-Raums spannt sich ein beeindruckendes Spektrum an Spacingformen auf: Die Kinder erschaffen Aufführungssituationen vom klassischen Guckkasten-Theater bis hin zu zeitgenössischen immersiven Theater- und Performance-Settings. Entsprechend variieren die Rollen, die sie den Zuschauenden zuweisen, von distanzierten Beobachter*innen bis hin zu Ko-Akteur*innen. Die Spacing-Formen des Akteur-Raums haben vielfach eine synchrone Qualität und scheinen dazu beizutragen, eine temporäre Gruppenidentität zu bilden und zu stärken. So entscheiden sich Kinder einer Gruppe, die gleichen Farben zu tragen, sich synchron zu bewegen oder mit ihren Körpern einen eigenen Raum im Raum zu bilden. Das kennzeichnet die Akteure auch für die Zuschauenden als zusammengehörig und steigert Intensität, Präsenz und Ausdrucksqualität der Performance. Dies wird besonders augenfällig an der mimetisch aufgenommenen und verwandelten Spiegelbild-Übung, die als formaler Impuls aus dem Übungsrepertoire der Projektwoche Eingang in viele Narrative fand. Die Spacingformen des Klang-Raums schließlich weisen meist einen wiederkehrenden Rhythmus auf und entfalten so auf akustischer Ebene ebenfalls eine synchronisierende Wirkung. Diese ermöglicht es Akteuren wie Zuschauenden, sich auf ein gemeinsames Zeitmaß und in eine geteilte Stimmungeinzuschwingen.
Anna Sterns Studie beschreibt zudem in ausführlichen Interpretationen von vier einzelnen Performances und den korrespondierenden Interviews, dass und wie sich hier zugleich Orientierungen und Themen von Kindern im Grundschulalter, materielle und soziale Ordnungen des Ortes sowie formale Impulse der begleitenden Studierenden zeigen. Im Aktionsrepertoire der Performances finden sich alltägliche Handlungen und Bewegungsformen, die mimetisch aufgenommen, variiert und an das entsprechende Narrativ angepasst wurden: Gehen, Haare kämmen, Wippen, Nüsse knacken… Indem diese Tätigkeiten an Orten gezeigt werden, an denen sie nicht erwartet werden, noch dazu verlangsamt oder wiederholt, entsteht eine produktive Spannung, der Ort wird neu und anders sichtbar. In ihren Performances verbinden die Kinder kontrastive Räume miteinander: Leben und Tod, Schlafen und Wachen, Arbeit und Freizeit, Vergangenheit und Gegenwart, Raum des Magischen und des Rationalen, Raum der Kinder und Raum der Erwachsenen. Damit spiegeln die Performances zugleich das Phänomen des Übergangs. Angesichts der Tatsache, dass sich die teilnehmenden Kinder zum Zeitpunkt des Projekts selbst in einer liminalen Phase befanden – zwischen Kindheit und Pubertät, zwischen animistisch-magischem und rationalem Weltverständnis und in Bezug auf ihre Schüler*innenrolle zwischen Grundschule und weiterführender Schule – können die Performances auch als Transformation dieses liminalen Erlebens in eine Aufführung verstanden werden. Die Performances boten die Möglichkeit, neue Rollen zu antizipieren und auszuprobieren, damit einhergehende Fragen und Verunsicherungen zu bearbeiten, zu verwandeln und mitzuteilen.
Fazit
Die Studie bewegt sich auf der Schnittstelle zwischen der Erforschung ästhetischer Praxen von Grundschulkindern und Unterrichtsforschung und macht von Kindern geschaffene Räume als Bildungsräume sichtbar. Zugleich plädiert sie für eine sozialraumorientierte Kunstpädagogik, die an kindliche Praxen des Spacings anschließt, sie als Formen des Kulturschaffens anerkennt und erweitert. In der Auseinandersetzung mit ortsspezifischer Performance-Kunst als zeitgenössischer Kunstpraxis können neue Aktionsräume für Kinder eröffnet werden, die ihnen in einem immer stärker verregelten, pädagogisierten und institutionalisierten Alltag zunehmend fehlen.
Anna Stern (2020): Räume schaffen. Eine explorative Fallstudie am Beispiel der Vermittlung von Site-specific Performance Art in der Primarstufe. München: kopaed. ISBN: 978-3-86736-590-1
https://www.kopaed.de/kopaedshop/?pid=1279
Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück. (Über-)Lebenserinnerungen. Dr. Wiebke Hiemesch
Das Buch fragt aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive nach der Opfergruppe der Kinder in nationalsozialistischen Zwangslagern und begegnet damit einer Leerstelle in der historischen Bildungsforschung.
Seit den 1990er Jahren rücken die jüngsten Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung als ‚letzte Zeuginnen und Zeugen’ verstärkt ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. In der Geschichtswissenschaft erschienen seitdem vereinzelt Studien zu den Kindern als eigener Opfergruppe. Sie stützen sich aber häufig auf Zeugnisse von Erwachsenen und ihren Erfahrungen und bleiben damit erwachsenenzentriert. Hier liegt das Potenzial einer subjektorientierten erziehungswissenschaftlichen Kindheitsgeschichte, die gerade die Lebensbedingungen von Kindern und ihr Erleben im Kontext unterschiedlicher soziohistorischer Konstellationen in den Mittelpunkt stellt. Doch Kinder in nationalsozialistischen Zwangslagern tauchen in erziehungswissenschaftlichen Studien bisher nur kursorisch auf oder sie fehlen ganz. Diesem Desiderat begegnet das Buch von Wiebke Hiemesch.
Kinder hatten in allen nationalsozialistischen Zwangslagern kaum eine Überlebenschance. Auch im (Frauen-)Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden, starb die größte Zahl von ihnen unter verheerenden Bedingungen sowie durch gezielte Tötungsaktionen. Während es von den getöteten Kindern meist keine Zeugnisse gibt, berichten Menschen, die die Lager als Kind überlebten, Jahrzehnte später, wie sie diese Gräuel erlebten. Fünf dieser (Über-)Lebenserinnerungen stehen im Zentrum des Buches. Anhand weiterer Quellen und Dokumente – so beispielsweise Zeichnungen eines Mädchens aus dem Lager – wird darüber hinaus die allgemeine Situation von Kindern in Ravensbrück beschrieben. So zeichnet die Dissertation ein genaueres Bild davon, wer die Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück waren und unter welchen inhumanen Bedingungen sie lebten.
Geleitet durch den erziehungswissenschaftlichen Zugang, ergänzt Wiebke Hiemesch historische Perspektiven auf die nationalsozialistischen Verbrechen um die Opfergruppe der Kinder. Dazu setzt sie sich kritisch mit dem Leitbild bürgerlich-moderner Kindheit auseinander und bespricht die Ergebnisse in einer Geschichte der Kinder im 20. Jahrhundert, die auch gesellschaftshistorische Brüche, Widersprüche und Erosionen des Leitbildes moderner Kindheit mitdenkt. Die Autorin verfolgt damit zudem eine erinnerungskulturelle Zielsetzung, die Leidens- und Lebensgeschichten der als Kind in Zwangslagern eingesperrten Menschen sichtbar zu machen und in ihrer Spezifik anzuerkennen; auch wenn das bedeutet, die Grenzen der eigenen Ausdrucksfähigkeit stets mit zu reflektieren.
Die Martha-Muchow Stiftung fördert die Veröffentlichung der Arbeit aus zwei Gründen. Zum einen steht die Untersuchung in der Tradition der Arbeit von Martha Muchow. Das betrifft das Bestreben, Kindern Gehör zu verschaffen und Sichtweisen von Kindern weder in der gegenwärtigen Beschreibung sozialer Wirklichkeit zu ignorieren noch deren Lebenswelten und Kulturen in einer Geschichtsschreibung außer Acht zu lassen, auch wenn es dafür unter Umständen unkonventioneller Wege jenseits etablierter Methoden bedarf.
Darüber hinaus leistet die Arbeit einen grundlegenden Beitrag zu einer Theorie der Kindheit, die über eine erziehungswissenschaftliche Perspektive hinausgeht. Die Arbeit untersucht die Historiograhie von Kindheit im KZ im Kontext und als Teil einer Kindheit in der Moderne. Entgegen der Behauptung, es hätte im KZ keine Kindheit gegeben wird deutlich, dass Kindheit im Konzentrationslager zur Kindheit in der Moderne gehört. Sich dieser Dialektik zu stellen hält die Martha-Muchow Stiftung vor dem Hintergrund der Dialektik der Aufklärung für theoretisch bedeutsam.
Wiebke Hiemesch (2017): Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück (Über-)Lebenserinnerungen. Mit einem Vorwort von Meike Sophia Baader. Beiträge zur Historischen Bildungsforschung Band 50. Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau.
Draußen spielen. Lehrbuch. Dr. Christiane Richard-Elsner
Martha Muchow dürfte heute Schwierigkeiten haben, überhaupt Probandinnen und Probanden für ihre Studien zu finden. Kinder aller Schichten halten sich heute kaum noch draußen, im Wohnumfeld oder im Umfeld ihrer Betreuungseinrichtungen auf, um selbstbestimmt zu spielen oder um allein ihre Ziele zu erreichen.
Dass das nicht irgendeine Randnotiz und unveränderbare Randerscheinung der Modernisierung der Gesellschaft ist, zeigt die Autorin ausführlich und wissenschaftlich fundiert in ihrem von der Martha-Muchow Stiftung geförderten Buch „Draußen spielen“, Beltz Juventa 2017. Denn das freie Spiel im Freien, oder Draußenspiel, wie sie es nennt, hat einen hohen Wert für die Entwicklung von Kindern.
Freies Spiel als biologisch bedingter Bestandteil des Verhaltens von Kindern
Zunächst zeigt Christiane Richard-Elsner, dass das Draußenspiel zum biologischen Verhaltensrepertoire des Menschen gehört. Die Historikerin weist darauf hin, dass es im Verlauf der Menschheitsgeschichte unterschiedlich in das Alltagsleben integriert wurde.
Heutige Bedingungen des Aufwachsens
Die Industriegesellschaft ist heute so strukturiert, dass sie mit dem spontanen, zeitvergessenen Tun von Kindern wenig vereinbar ist. Taktungen des Alltags, Funktionentrennung von Privat-, Erwerbs- und Bildungsbereichen, der motorisierte Straßenverkehr, die Konkurrenz durch elektronische Medien lassen zeitlich wie räumlich nur wenige „wilde Ecken“ für Kinder übrig. Dass das so ist, ist nicht nur scheinbar unabänderlichen Abläufen der Moderne geschuldet. In diesem Buch wird auch ein kritischer Blick auf Diskurse in den Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte geworfen, die dazu führten, das freie Spiel im Freien zu marginalisieren.
Entwicklungsförderung
Ausführlich wird darauf eingegangen, dass das Draußenspiel körperliche, psycho-soziale und kognitive Kompetenzen von Kindern stärkt. Draußenspiel und eigenständige Mobilität könnten wesentliche Bestandteile der Alltagsmobilität von Kindern sein und so einen bedeutenden Beitrag zur entwicklungsnotwendigen körperlichen Bewegung leisten. Draußenspiel vermittelt Selbstwirksamkeitserfahrungen, die Kinder befähigen, ein realistisches und optimistisches Selbstkonzept zu entwickeln. Es vermittelt emotionale und praktische Naturerfahrungen und die Kompetenz zum eigenständigen Handeln.
Inklusion des Draußenspiels in den Alltag
Um nicht bei einer Ist-Analyse stehen zu bleiben, wird im letzten Teil des Buches ausführlich auf die Förderung von Möglichkeiten zum Draußenspiel eingegangen, die die Autorin auch aus ihrer langjährigen Tätigkeit als Leiterin der interdisziplinären Arbeitsgruppe Draußenkinder im ABA Fachverband kennt. Kinder benötigen demnach freie Zeit sowie einen Streifraum, in dem sie anregungsreiche Spielräume, am besten auch naturhafte, selbstständig erreichen können. Dies ist auch als Aufgabe von Ganztagsschulen und Kitas zu betrachten. Dass dies durchaus realistisch ist, zeigen z.B. Maßnahmen wie die Spielleitplanung oder die Anlage von Naturerfahrungsräumen. Das freie Spiel im Freien und eigenständige Kindermobilität sind als Funktionen zu betrachten, die der öffentliche Raum vor allem in der Wohnumgebung erfüllen muss.
Die Martha-Muchow Stiftung hat die Veröffentlichung des Buches gefördert, weil das freie Spiel im Freien einen hohen Wert für die Entwicklung von Kindern hat. Mit dieser Veröffentlichung soll es ein Lehr- und Fachbuch geben, dass umfassend über Aspekte des Draußenspiels informiert und in der Lehre eingesetzt werden kann. Es soll unterstützen, dass sich Forschung z.B. in den Sozialwissenschaften, der Sportwissenschaft und der Umweltwissenschaft interdisziplinär mit diesem Thema beschäftigt.
Christiane Richard-Elsner (2017): Draußen spielen. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN: 978-3-7799-3693-0
Eine Kurzfassung findet sich unter dem folgenden Link:
https://www.kas.de/analysen-und-argumente/detail/-/content/draussen-spielen-ein-unterschaetzter-motor-der-kindlichen-entwicklung
Doing Gender und Feeling Gender im Sportunterricht. Eine leibphänomenologische Ethnografie des spielerischen Zweikämpfens.
Florian Hartnack
Das Kämpfen, Ringen und Raufen ist in unterschiedlicher Ausprägung mittlerweile fester Bestandteil der meisten Lehrpläne für den Sportunterricht in Deutschland. Diesem körperkontaktintensiven Bewegungsfeld werden dabei vielfältige Wirkweisen zugeschrieben, dessen empirischer Nachweis zumeist noch aussteht. Hier setzt die Arbeit des Sportpädagogen Florian Hartnack an.
Im Rahmen der phänomenologischen Studie geht Hartnack der Fragestellung nach, ob das spielerische Kämpfen Geschlechterstereotype aufbrechen kann. Wie in qualitativer Forschung üblich, wurde vorweg keine Hypothese aufgestellt. Vielmehr rückten hermeneutisch-zirkulär spezifische Praktiken der kindlichen Differenzierung von Geschlecht in den Fokus der Beobachtungen.
Methodisch wählte Hartnack hierfür ein ethnografisches Vorgehen. Über teilnehmende Beobachtung partizipierte der Forscher am Sportunterricht. Um sich den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler weiter anzunähern, wurden ergänzend zur teilnehmenden Beobachtung narrative Interviews durchgeführt. Anlehnend an die Theorie und Metaphorik der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz klammerte Hartnack dabei eigene Erfahrungen nicht aus. Stattdessen hielten eigene Gefühle und Gedanken reflexiv Einzug in die Erhebungs- wie Auswertungsphase.
Um eine größtmögliche Offenheit, aber auch intersubjektive und intermomentane Nachvollziehbarkeit zu ermöglichen, wurden die Daten schließlich nach dem Stil der Grounded Theory ausgewertet. Hierbei konnte ein Kategoriesystem leiblicher Praktiken der kindlichen Geschlechterdifferenzierung erstellt werden.
Es zeigte sich, dass die Kinder bereits Räumlichkeiten wie die Turnhalle oder Sportgeräte wie die Turnmatten mit unterschiedlichen Erwartungen und Ängsten assoziieren. So scheint herumliegenden Turnmatten bereits ein Aufforderungscharakter implizit, da diese von vielen Schülern zum Raufen und von einigen Schülerinnen zum Turnen genutzt werden. Typische sozial zugeschriebene Eigenschaften des eigenen Geschlechts werden dabei wie auf einer Bühne stets ausgelebt und vorgespielt. Ein eng-nahkörperlicher und damit auch intensiv-stärker erscheinender Körperkontakt konnte vorrangig bei Jungen beobachtet werden, während ein Großteil „der Mädchen“ eher distanziert-vorsichtiger kämpfte. Eine große Rolle scheint dabei das Beobachten und Beobachtet-Werden zu spielen. In vielfachen Situationen zeigte sich, dass Schüler unter Beobachtung intensiver kämpfen, während viele Schülerinnen unter Beobachtung der Mitschülerinnen und Mitschüler Kämpfe durch Lachen oder dem Betonen von Verletzungen abbrechen. Fühlen sich ebendiese Mädchen nicht beobachtet, fand oftmals ein ähnlich intensives und nahkörperliches Kämpfen wie bei den Jungen statt.
Interpretativ schließt der Sportwissenschaftler Hartnack daraus, dass die Kinder zur Konsolidierung der eigenen Geschlechtsidentität repetitiv ein Gleichgewicht zwischen der beobachtbar körperbezogen-interaktiven Darstellung der eigenen Geschlechtlichkeit durch Reproduktion geschlechtsspezifischer soziokultureller Normierungen (Doing) und der damit verbundenen leiblich-spürbaren Erfahrung, ein bestimmtes Geschlecht zu sein, welche zumeist im Umgang mit Nähe und Distanz und Berührungen bestimmter geschlechtlich konnotierter Leibesinseln entspringt (Feeling), schaffen. Wird dieses Gleichgewicht gestört, indem wie bei den Zweikämpfen der Mädchen nun körperliche Erfahrungen nicht mehr kongruent mit dem Gefühl, ein bestimmtes Geschlecht zu sein, sind, stellen die Kinder über die geschlechtsspezifischen leiblichen Praktiken wie das Lachen, Weinen, Schreien, Darstellen, Anfassen etc. wieder ein Gleichgewicht zwischen Doing und Feeling Gender her.
Didaktisch liegt der der besondere Wert der Ergebnisse einerseits in den konkreten methodisch-didaktischen Ableitungen für den Sportunterricht. In den Zweikampf gesteckte Hoffnungen und Ansprüche korrelieren nicht per se mit der Praxis. Die Ergebnisse lassen erste Überlegungen zu einem geschlechtergerechten Sportunterricht zu. Methodisch bereichert der Versuch einer neophänomenologischen Ethnografie andererseits die Sozial- und Erziehungswissenschaft(en).
Die Martha-Muchow Stiftung hat die Veröffentlichung der Dissertation gefördert, weil sie neue Perspektiven in der Forschung mit Kindern erschließt. Das ergibt sich zu einem daraus, dass der forschende Wissenschaftler seine eigenen leiblichen Erfahrungen in den Forschungsprozess eingebracht hat, zum zweiten daraus, dass neben der Beobachtung und Interpretation kindlicher Körperpraxen auch die metaphorische Beschreibung der Gedanken und Gefühle von Kindern aufgegriffen wurde. So ergibt sich eine detaillierte Beschreibung kindlicher Praktiken, die den Zusammenhang zwischen gefühltem und dargestelltem Geschlecht aufzeigt.
Florian Hartnack (2017): Doing Gender und Feeling Gender im Sportunterricht. Eine leibphänomenologische Ethnografie des spielerischen Zweikämpfens. Göttingen: V&R unipress. ISBN: 978-3-8471-0774-3
Die Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge. Faktoren von Inklusion und Exklusion in München und Toronto. Dr. Annette Korntheuer
Cause we come here with the spirit of going to school. Cause that’s the most important thing. We can. We want. We come here hoping. (….) If you don’t have education you don’t have a future. Because education is something important to gather knowledge. To be somebody. (Ella, junge Asylsuchende in Toronto)
Sowohl Deutschland als auch Kanada stehen vor der dringlichen gesellschaftlichen Aufgabe, jungen Geflüchteten Teilhabe an Bildung zu ermöglichen. Während in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen häufig die Perspektive der Geflüchteten nicht miteinbezogen wird, versucht diese Studie einen Perspektivwechsel zu initiieren. Auf Basis eines qualitativen Designs gelingt es nicht nur über junge Geflüchtete zu sprechen, sondern ihre eignen Narrative und ihre Sicht auf Bildung aufzugreifen.
Annette Korntheuer untersucht die Bildungserfahrungen junger Geflüchteter sowie Bildungsstrukturen in München und Toronto. Kanada und Deutschland und damit auch die beiden Städte unterscheiden sich zum Teil sehr grundsätzlich in Bezug auf Gesellschaftssystem und Bildungssystem sowie den Umgang mit Geflüchteten.
Während sich Deutschland über Jahre weigert die Tatsache anzuerkennen, dass es ein Einwanderungsland ist und Asylpolitik weitgehend daran orientiert ist, Immigration zu verhindern, versteht sich Kanada als Einwanderungsland. Dies hat nicht nur zur Folge, dass es transparente und geregelte Verfahren gibt, sondern auch Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Ansässigen und Einwanderern. Die kanadische Einwanderungspolitik pflegt Unterschiedlichkeit und geht grundsätzlich davon aus, dass die Eingewanderten im Land bleiben wollen und werden.
In beiden Städten führte Annette Korntheuer qualitative Interviews mit Lehrer_innen, Sozialarbeiter_innen und anderen Expert_innen (N=25) sowie mit jungen Geflüchteten im Alter zwischen 14 bis 24 Jahren (N= 40).
Die Erhebung aus der Sicht der Beteiligten ist die Voraussetzung für ein Verständnis von Bildungsteilhabe, das im Spannungsfeld individueller und struktureller Bedingungen betrachtet wird. Entsprechend lauten die forschungsleitenden Fragen:
Wie empfinden und beschreiben junge Geflüchtete selbst ihre Bildungssituationen in zwei sehr unterschiedlichen urbanen Kontexten?
Wie stehen diese Schilderungen wiederum im Zusammenhang mit den vorhandenen Institutionen der Bildungssysteme und den gesetzlichen Regelungen des Flüchtlingsschutzes?
In der Analyse des Datenmaterials kristallisieren sich zwei zentrale Faktoren heraus, die den Zugang und die Teilhabe an Bildung wesentlich beeinflussen:
1) Gruppenspezifisch sind die Biographien der Interviewpartner_innen von ihren Erfahrungen der Pre-, Trans- und Postflucht geprägt. Sie müssen sich mit Verlusterfahrungen, traumatischen Erlebnissen und erschwerten Akkulturationsbedingungen in den Aufnahmestaaten auseinander setzen. Aufgrund ihrer Lebenslagen entwickeln sie jedoch häufig auch Resilienz, Bildungsmotivation und hohe Bildungsaspirationen als biographisch geformte Ressourcen. Diese Studie gibt wichtige Hinweise wie sich diese entwickeln, stabilisieren und destabilisieren. Beschrieben wird dies hier von einem jungen Mann in Toronto:
(…) and the way like I was going to school like secretly and stuff and it was a hardship you know it was struggle I was doing and ah it helped me like where I am right now it was probably- it was hardship but I had that in the past. (Sam, Toronto)
2) Strukturell ist die Bildungsteilhabe junger Geflüchteter durch Einschränkungen aufgrund institutioneller und struktureller Barrieren gekennzeichnet. Es kann zu institutioneller und struktureller Diskriminierung kommen. Spezifisch für die Gruppe der Asylbewerber_innen sind Exklusionsmechanismen, die sich aus unterschiedlichen Logiken zwischen Asyl- und Bildungssystem ergeben. Ein junger Mann in München beschreibt dies im folgenden Zitat:
Keine Ahnung. Ich, ich weiß nicht welchen Beruf ich muss machen. Weil ich bin mir nicht sicher ob ich kann diesen Beruf, so schaffen eine Ausbildung (…). Seit dem ich hab negativ ich hab viel Angst (—-) und ich kann nicht auch mehr konzentrieren, in meinem zum Beispiel Unterricht und deswegen ich hab auch viel Probleme bekommen. (Hussini, München))
Grundlegend ist die Ausgestaltung der Bildungssysteme durch gesellschaftliche Integrationsphilosophien beeinflusst. Diese werden als Differenz zwischen Multikulturalismus und Assimilation deutlich. Kanadischer Mulitkulturalismus zeigt sich in den Schulstrukturen innerhalb Equity und Diversity – Strategien sowie einer verstärkten Individualisierung von Unterricht und Leistungsnormen. Beschrieben wird dies im folgenden Zitat von Mr. Mitchel den Rektor einer Highschool:
„(…) I think that what we trying to do is to establish a culture that shows an understanding that for a variety of reasons students cannot always fulfill the institutional expectation without some flexibility and some support. We not targeting the refugee students any more than the students from the high poverty neighbourhoods, than the students with special education needs, or with English language development needs. We just trying to say that there are a students with a lot of different needs, that you need to be aware of in order to effectively educate them. (Mr. Mitchel, Toronto)
Während auf die Anwesenheit von jungen Geflüchteten in München vor allem in Form von Sonderklassen reagiert wird und strukturell sehr klar die Berufsausbildung als Ziel vorgegeben ist, eröffnet die inklusive Beschulung an den Highschools in Toronto Kontaktmöglichkeiten zur Mehrheitsgesellschaft und Zugang zu unterschiedlichen Sekundarabschlüssen. Die Studie verdeutlicht, dass als praktische Handlungsstrategien zur Stärkung der Inklusion junger Geflüchteter im Bildungssystem Ansätze des Empowerments und der Advocacy und die verstärkte Miteinbeziehung von ethnischen und religiösen Communities sowie Mentoringprogramme in den Bildungssettings angeregt werden können. Um passende Bildungsangebote zu installieren, müssen Geflüchtete und ihre Communities stärker in die Mitgestaltungen von Bildungsstrukturen einbezogen werden. Politische Interventionen sollten zum Abbau restriktiver Asylregelung führen und Integration als politische Zieldimension für alle jungen Geflüchteten definieren.
Die Martha Muchow-Stiftung hat den Druck der Dissertation gefördert. Wie Geflüchteten Zugang zu Bildung im weitesten Sinne ermöglicht werden kann ist eine der wichtigen Fragen der Gegenwart und Zukunft. Und die dafür notwendige Kultur lässt sich nur mit den Geflüchteten und unter Berücksichtigung ihrer Vorstellungen und Interessen etablieren. Wesentlicher Gesichtspunkt der Förderung war die für die oben genannten Ziele Voraussetzung, dass die Arbeit die Erhebung der Perspektive der betroffenen Menschen zur Sprache gebracht hat.
Annette Korntheuer (2016): Die Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge. Faktoren von Inklusion und Exklusion in München und Toronto. München: Waxmann. ISBN: 978-3-8309-3541-4
http://www.waxmann.com/buch3541
Hausaufgaben yapmak. Ein ethnographischer Blick auf den Familienalltag. Martina Nieswandt
Es gibt eine Vielzahl von Studien zu Hausaufgaben, aber nur wenige, die beobachten, was es heißt, wenn Kinder in einer Familie ihre Hausaufgaben machen (sollen). Und es gibt keine Forschung, die solche Beobachtungen auf Familien bezieht, die aus unterschiedlichen Gründen mit dem System Schule, mit deren Sprache, mit kulturellen Gewohnheiten und Erwartungen wenig vertraut sind. Genau dies hat Martina Nieswandt in ihrer Forschung unternommen.
Drei Mal je eine Woche (mit halbjährigen Unterbrechungen) war sie in fünf türkischen Familien in der Zeit anwesend, in der Hausaufgaben angefertigt wurden und hat die Situationen in den Familien beobachtet. Mit einem Sprachaufzeichnungsgerät wurden die Dialoge zwischen Kindern und Eltern aufgezeichnet, Aufgabenstellungen oder fertige Hausaufgaben, vor allem ausgefüllte Arbeitsblätter, wurden fotografiert. Die Konzentration auf Familien mit türkischem Migrationshintergrund begründet sich aus der Annahme, dass Kinder aus diesen Familien als besonders bildungsbenachteiligt gelten, weil angenommen wird, dass die Eltern aufgrund ihrer Schulbildung und ihrer Sprachkenntnisse ihre Kinder weniger bei den Aufgaben unterstützen können. Ein Ergebnis der Studie ist dann auch, dass die Art und Weise, wie die Schule Hausaufgaben stellt und formuliert in einer Bildungssprache geschieht, die zu Schwierigkeiten bei der Aufgabenbearbeitung führen kann, selbst dann wenn gute Sprachkenntnisse bei den Eltern vorhanden sind. Die bildungssprachlichen Fertigkeiten werden von den Kindern und ihren Eltern erwartet und vorausgesetzt, ohne dass sie zuvor durch die Schule vermittelt wurden. Der deutsch-türkische Titel der Dissertation „Hausaufgaben yapmak” kann dem Betrachter des Umschlages etwas von dieser schwierige Situation, in der sich Eltern befinden, veranschaulichen: Als deutschsprachiger Leser kann man zunächst nur ein Wort verstehen, das Wort yapmak bleibt unverständlich – es bedeutet „machen”.
Dieses Problem der Existenz zweier Sprachen am Familientisch bei der Durchführung von Hausaufgaben dürfte auch auf viele deutschsprachige Familien zutreffen. Daraus folgen, auch dies zeigt die Studie an vielen genau beobachteten Beispielen, schwierige Gesprächssituationen. Eltern und Kinder bemühen sich gemeinsam um das Verständnis der Aufgabenstellung. Die Eltern wollen und sollen den Kindern helfen, diese wollen und sollen sich helfen lassen und sind gleichzeitig Experten für die Interpretation der schulischen Aufgabenstellung. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit von Martina Nieswandt machen sichtbar, dass es sich bei Hausaufgabensituationen um intergenerationale Tischgespräche zwischen Eltern und Kindern handelt. Diese Gespräche sind dabei von einer Vielzahl unterschiedlicher Rollen und Vorstellungen geprägt. Die Kinder sitzen gewissermaßen als Schüler am heimischen Familientisch. In einer gewissen Weise ist die Schule anwesend und dennoch ist es ein Gespräch zwischen Eltern und Kindern und nicht zwischen Lehrerinnen und Schülern. Welche Bedeutung die Hausaufgaben wiederum in der Schule haben, muss von beiden interpretiert werden, weil es einerseits als wichtig gilt, dass die Hausaufgaben pünktlich und vollständig durchgeführt werden, andererseits nicht klar ist, welchen Anteil eine gute Erledigung der Hausaufgaben an den Noten hat. So ist ein weiteres Ergebnis der Beobachtungen, dass Fehlervermeidung im Mittelpunkt der Diskussionen und Handlungen steht. Es geht Kindern und Eltern darum, ein möglichst fehlerfreies Produkt anzufertigen. Daran wird besonders die Paradoxie der Hausaufgabensituation deutlich. Eigentlich sollen Hausaufgaben zum selbständigen Üben und Wiederholen von Unterrichtsinhalten beitragen oder wie es im hessischen Schulgesetz heißt: „Hausaufgaben ergänzen die Unterrichtsarbeit durch Verarbeitung und Vertiefung und durch Anwendung von Kenntnissen und Fertigkeiten.“ Nicht geregelt ist in dem Gesetz die Alltagssituation, die darin besteht, dass vielen Schülern eben jene in der Schule vermittelten Einsichten fehlen, die nun nur noch vertieft und geübt werden sollen. Selbst ein ggf. mit Hilfe der Eltern erstelltes fehlerfreies Produkt erlaubt keine Rückmeldung über das Gelingen oder Nichtgelingen der angestrebten Lernprozesse. Hausaufgaben gehören als Schulaufgaben an ihren Entstehungsort zurück, nämlich in die Schule und nicht in die Familie – ist die Folgerung der Studie.
Die Martha-Muchow Stiftung hat die Publikation der Dissertation finanziert. Diese Arbeit stellt eine Verbindung von Schulforschung und Kindheitsforschung her. Indem sie Hausaufgabensituationen in Familien erforscht wird ein neues, bisher brachliegendes Forschungsfeld betreten. Darüber hinaus wird hier im Kontext der Komplexität der Zumutungen und Erwartungen an Kinder in Schule und Familie auch deren Perspektive auf eine Welt dargestellt, die die Erwachsenen ihnen auf eine höchst widersprüchliche Weise präsentieren.
Martina Nieswandt (2013). Hausaufgaben yapmak. Ein ethnographischer Blick auf den Familienalltag. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. ISBN: 978-3-7815-1948-0