* 25. September 1892, † 29. September 1933 in Hamburg
Martha Muchow war von 1915–20 als Lehrerin an Hamburger Volksschulen tätig und arbeitete in ihrer Freizeit am
Psychologischen Laboratorium. 1919 begann sie ein Psychologiestudium und arbeitete seit 1920 bei Prof. William Stern am Psychologischen Laboratorium als „wissenschaftliche Hilfarbeiterin“, promovierte 1923 und wurde 1930 wissenschaftliche Rätin am nun umbenannten Psychologischen Institut. Neben ihren Forschungsarbeiten war sie u.a. für die Einführung eines sozialpädagogischen Praktikums für Lehramtstudierende zuständig und leitete auch die Praktika auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychologie an. Ende der 20er Jahre begann sie mit den Vorarbeiten zu ihrer Studie.
„Der Lebensraum des Großstadtkindes“, die sie nicht mehr selbst fertig stellen konnte. Am 7. April 1933 wurden die beiden Professoren des Psychologischen Instituts fristlos ihrer Ämter enthoben. Sie erhielten Vorlesungsverbot und durften das Institut nicht mehr betreten.
Martha Muchow mußte trotz schärfster Diffamierungen und Anfeindungen als „einzige Arierin“ die Abwicklung des Instituts übernehmen, das am 25.9.1933 verwaltungsmäßig an einen nationalsozialistischen Erziehungswissenschaftler übergeben wurde. Zwei Tage nach dieser Entlassung unternahm Martha Muchow einen Selbstmordversuch, dem sie am 29.9.1933 erlag.
Ihre unabgeschlossene Arbeit „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ wurde 1935 von ihrem jüngeren Bruder Hans Heinrich Muchow veröffentlicht, aber entsprechend der Zeitumstände nur einem sehr kleinen Kreis von Wissenschaftlern bekannt. Erst ein 1978 von Jürgen Zinnecker und Bruno Schonig herausgegebenes Reprint verschaffte der Studie Bekanntheit und breitere wissenschaftliche Resonanz. Die Besonderheit dieser Arbeit ist ihr – gegenüber der damaligen Wissenschaftsauffassung – grundlegend veränderter Ansatz: Im Mittelpunkt stand nicht der Einfluss der Umwelt auf das Kind, wobei Umwelt und Kind als feststehende Konstanten galten, sondern die Art und Weise, wie Kinder die sie umgebende Welt sehen, interpretieren und leben. Günter Mey sieht darin drei wesentliche Revisionen: Zunächst ein verändertes Subjektverständnis, das in der heutigen Sprache wohl als „produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt“ (Hurrelmann 1983) betrachtet werden könnte. Damit einhergehend wurde ein verändertes methodisches Vorgehen vorgeschlagen, das dem Vorhandensein unterschiedlicher Perspektiven Rechnung tragen sollte und bei dem Muchow auf der Differenz zwischen Forscher- und Kind-Perspektive insistierte und damit das praktizierte, was heute als „qualitative Sozialforschung“ bezeichnet wird. Und drittens wurde der Anspruch formuliert, über eine Allgemeine (Entwicklungs-) Psychologie hinaus die konkreten „Weltbereiche“ der handelnden Subjekte einzubeziehen. In der Folge ist „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ als „Pionierarbeit der deutschen Sozialforschung“ (Zinnecker) zur meist zitierten Studie in der neueren Kindheitsforschung geworden.